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Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er Jahre. Konstellationen – Kontexte – Konzepte. Berlin, Boston: de Gruyter 2012 ...

… Die Erschießung Benno Ohnesorgs ebenso wie die geplanten Notstandsgesetze sowie die Berichterstattung über die studentische Protestbewegung und ihre Erscheinungsformen in der Springer-Presse sind diejenigen Ereignisse, die die diskursive Bearbeitung des Grundthemas motivieren. Sie werden im Diskurs wesentlich von der studentischen und der intellektuellen Linken initiativ platziert und realisiert. Und sie werden mit aus der Kritischen Theorie entnommenen antifaschistisch-antiautoritären Deutungsschemata auf der Basis (radikal-)demokratischer Konzeptionen bewertet. Diese Konstellation bildet den Rahmen der folgenden Untersuchung. Ihr Gegenstand ist der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre, unter dessen Bedingungen die beiden Beteiligtengruppierungen, studentische Linke und intellektuelle Linke, ihre Demokratiekonzepte konstituieren. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hat dabei als diejenige Referenzinstanz zu gelten, die die Grundlage dieser Konzeptionen bereitstellt. Beide Beteiligtengruppierungen beziehen sich – je spezifisch – auf sie, beide leiten aus ihr – je spezifisch – ihre demokratischen Konzepte ab. Die Ausdifferenzierung dieser Konzepte sowie ihre kommunikativ-argumentativ realisierte Aushandlung und Bearbeitung werden in der folgenden Untersuchung rekonstruiert. Diese Arbeit soll insofern einen Beitrag leisten zur sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts. … (aus der Einleitung)


Artikel aus dem Diskurswörterbuch ‚Protestdiskurs 1967/68' ...

Aufklärung

Aufklärung gehört, wie Befreiung, Bewußtmachung, Demokratisierung, Emanzipation, Entlarvung, Politisierung, zu den zielbestimmenden Handlungsbezeichnungen des kritischen Diskurses und drückt im Gegensatz zu solchen Diskurselementen, die einen gesellschaftsverändernden Anspruch bezeichnen, wie Regelverletzung, Revolution oder Verweigerung, einen von hoher Moral und Ethik geprägten Selbstanspruch der Beteiligten aus. Darüber hinaus dokumentiert Aufklärung, wie die Diskurselemente Autonomie/Selbstbestimmung, Emanzipation, Mündigkeit und Vernunft, die Tradition der Spätaufklärung, in die sich die Kritische Theorie der intellektuellen Linken, und über sie auch die studentische Linke, stellt.
Im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre wird Aufklärung zum einen 1 im Sinn von ‚aufschlussgebende Darlegung, Erklärung‛ verwendet (s. Habermas 1968h, 504; Habermas 1968a, 196; Habermas 1967a, 146): Basis der Aufklärung ist eine an das Prinzip herrschaftsfreier Diskussion gebundene Wissenschaft; Aufklärung muß den Parolen erst vorangehen; die demonstrative Gewalt, welche die politische Aufklärung in Anspruch nehmen darf, ist definiert durch das Ziel der Aufklärung. Zum andern dient Aufklärung 2 zur Bezeichnung politischen Handelns in der Bedeutung ‚das bewusstseinsbildende Verschaffen von Erkenntnissen und Einsichten mit dem Ziel der Veränderung gesellschaftlicher Gegebenheiten‛ (s. Rabehl 1968c; Fried 1968, 263; Habermas 1969b, 9; Bergmann 1968f, 19; Claussen 1969, 6; Habermas 1968a, 192): die Theorie gibt den abhängigen Klassen Aufklärung; Aufklärungsarbeit und Überwindung des falschen Ohnmachtsgefühls; Aufklärungschancen für Ziele eines radikalen Reformismus; Aufklärungskampagne über Vietnam; Aufklärungsprozesse in Gang setzen. Diese kontroversen Ausdeutungen lassen sich bezüglich der Relation zwischen Aufklärung einerseits und anderen politischen Handlungen, insbesondere der politischen Aktion andererseits beschreiben. Die intellektuelle Linke, insbesondere Jürgen Habermas, setzt beide in ein zeitliches Bedingungsverhältnis zueinander und spricht insofern dem politischen Handeln der studentischen Linken, das Habermas als scheinrevolutionär bewertet, Aufklärungsfunktion ab (s. Habermas 1968a, 199): Die Taktik der Scheinrevolution muß einer langfristigen Strategie der massenhaften Aufklärung weichen. Teile der studentischen Linken und ihre intellektuellen Mentoren nehmen diese Formulierung zitierend und ihr widersprechend in ihren Interdiskurs auf und deuten Aufklärung im Gegensatz zu Habermas als Bestandteil einer Aktion und im sozialistisch-kommunistischen Sinn als Agitation (s. Wolf 1968, 159; Dutschke 1967e, 81f.; Dutschke 1967d, 15; Lefèvre 1968b, 50; Cerutti 1968, 41; Dutschke 1968c, 89; Negt 1968c, 29): Aufklärung ist keine Strategie, sondern entweder eine kurzfristige Taktik oder eine unbestimmte Negation des bewußtlosen Zustands der Gesellschaft; Aufklärung ohne Aktion wird zum Konsum; systematische Aufklärung und direkte Aktionen; Aktionsprogramm zur Aufklärung der verschiedenen Bevölkerungsschichten; Aufklärung und revolutionäre Aktionen voneinander zu trennen ist unpolitisch; unsere politische Arbeit, unsere Aufklärung, unsere Provokationen und Massenaktionen; Ansätze für aktionsgebundene Aufklärungsstrategien....

owid.de/artikel/402029


Charaktermaske

Charaktermaske zählt, wie Bourgeoisie, Establishment, Herrschaft, zu den pejorisierenden Bezeichnungen der politischen Gegner und ist in den Kontext der Kritik eines autoritären, durch die Dominanz von Institutionen und Apparaten gekennzeichneten Systems zu stellen.
Charaktermaske verwenden die Diskursbeteiligten im Sinn von ‚Funktionsträger des kapitalistischen, für autoritär gehaltenen Systems, der im Rahmen dieses Systems handelt‛, häufig in Verbindung mit abwertenden Attributen wie bürokratisch, kleinbürgerlich (bürgerlich) oder austauschbar, um konkrete Personen als Funktionsträger des bürgerlichen Establishments zu identifizieren und sie zugleich als menschlich unbeteiligte Systemstellen im Kapitalismus zu charakterisieren (s. Dutschke 1967b, 270): die Regierenden an der Spitze sind bürokratische Charaktermasken, die ich nicht hassen kann.

owid.de/artikel/402043


Terror

Terror ist, wie autoritär, faschistisch, Gewalt, Hetze, Repression oder Unterdrückung, dominant eine stark wertende, den Gegenwartsstaat und seine Exekutive kennzeichnende Zuschreibung. Terror ist ein Diskurselement, das entscheidend an dem von den beiden Beteiligtengruppierungen unterschiedlich bewerteten Konzept der Gewalt beteiligt ist. Während ebenfalls Herrschaft und Macht konzipierende Abstrakta wie Apparat, Bürokratie, Institution oder System auf nichtmaterielle Gewalt verweisen, dient Terror den Beteiligten vor allem dazu, körperliche, konkrete Gewalt zu bezeichnen. In der Bedeutung 1 ‚Gewalt, Zwang, Druck?' gebraucht (s. Habermas 1967a, 138): Terror heißt: gezielte Einschüchterung, faktische Einschränkung geltender Rechte; Terror zielt auf die Abschreckung künftiger Proteste. In diesem Sinn verwenden die intellektuelle und die studentische Linke die Bezeichnung als Stigmawort, das sich insbesondere auf physisches staatliches, vor allem polizeiliches Handeln im Zusammenhang mit Protestdemonstrationen bezieht (s. SDS 1969d, 116; Dutschke 1968b, 70; Brentano 1967, 31f.; Dutschke 1967e, 81; Berliner Manuskripte 1967): der Apparat schickt sich an, zum offenen Terror überzugehen; alle Mittel der Gewalt und des Terrors in dieser Gesellschaft; der offen und unkaschiert hervorgetretene Polizeiterror; tendenzielle Beseitigung der studentischen Opposition durch exemplarischen Polizeiterror; Versuche, die Studentenbewegung durch Polizeiterror zu liquidieren. Ereignisbezogen referieren die Diskursbeteiligten vor allem auf die Erschießung Benno Ohnesorgs und die im Bundestag diskutierten Notstandsgesetze sowie auf die Berichterstattung der Springerpresse (s. Habermas 1967a, 138; Berliner Manuskripte 1967; SDS 1967f, 313; SDS 1967b, 321; Peter 1967, 107; Habermas 1967b, 162; Abendroth 1967a, 68; Grass 1968b, 263; Lefèvre 1967a, 12; Negt 1968a, 21): die Polizei hat Terror ausgeübt und der Senat hat diesen Terror gedeckt; der Terror vom 2. Juni; die Springerpresse hat die Bevölkerung zu Terror und Gewalt gegen die Studenten aufgehetzt; Vorbereitung des Notstandsterrors; es gab offenen Polizeiterror und ein Stadtoberhaupt, das dieser Polizei dankte; Verwandlung eines Organs der demokratisch legitimierten Exekutive zum faschistischen Terrorinstrument; die Studenten werden zu Terroristen, die zu bekämpfen zum legitimen Gegenterror wird. Daneben bezeichnet Terror im Diskurs der späten 1960er Jahre auch 2 die nationalsozialistische Gewalt (s. Habermas 1967b, 169; Negt 1968a, 17f.; Dutschke 1968i, 56; SDS 1967b, 321): die Studenten haben keine persönlichen Erfahrungen mit politischem Terror; politischer Mord und organisierter Terror; der zynische und brutale Terror des Faschismus; staatlich organisierter und sanktionierter Terror; die Opfer des faschistischen Terrors. Diese historische Gewalt des Nationalsozialismus ist Motiv, zum einen 3.1 staatliche Reaktionen auf studentischen Widerstand in der Bundesrepublik mit nationalsozialistischer Gewalt gleichzusetzen bzw. zu parallelisieren (s. Cerutti 1968, 41; Negt 1968a, 22f.; Agnoli 1968d, 45): Terror und Gewalt haben neue, subtile Formen angenommen; von Terror und Faschismus reden; in Terror und Gewaltanwendung sieht man gewöhnlich das Wesensmerkmal des Faschismus. Daneben sind auch 3.2 die studentischen Widerstandsformen Anlass, diese in Vergleich mit Gewaltformen des Nationalsozialismus zu bringen und mit Terror zu bezeichnen (s. Horkheimer 1967e, 232; Horkheimer 1967b, 232): …

owid.de/artikel/402101



Aus: "Sprache und Cultur in dem genauesten Verhältnisse". Kulturgeschichte und Lexikographie bei Johann Christoph Adelung ...

Insgesamt also finden wir Adelung in seinen Schriften und in seinem Wörterbuch auf der Höhe des gelehrten Diskurses seiner Zeit. Dieses Wörterbuch, so ist unsere Leitidee, die die folgende Darstellung lenkt, reflektiert das kulturgeschichtliche Konzept Adelungs. Es ist die Umsetzung und Manifestation seines Aufklärungs- und Kulturbegriffs, die Adelung gleichsam im Sinn eines lexikographischen Programms formuliert. Dieses lexikographische Programm legt Adelung im Wörterbuch selbst fest, und zwar im Artikel aufklären. Die dritte Lesart der „figürlichen“ Bedeutung 2) lautet „Viele deutliche Begriffe beybringen“ und als Verwendungsbeispiele gibt Adelung an:


„Ein aufgeklärtes und unbefangenes Gewissen. Ein aufgeklärter Verstand, der viele deutliche Begriffe hat. Aufgeklärte Zeiten, da man von vielen Dingen klare und deutliche Begriffe hat.“ (Adelung 1793, s.v. aufklären


Diese Verwendungsbeispiele für das attributiv gebrauchte Partizip aufgeklärt sind in spezifischer Weise Ausdruck aufgeklärten Denkens: in ethischer Hinsicht (Gewissen), in rationaler Hinsicht (Verstand), in temporaler Hinsicht (Zeiten, womit Adelung Epochenbewusstsein zu dokumentieren scheint).


Soviel ist also klar: Adelung ist fest verwurzelt im Denken seiner Zeit, und alle Elemente dieses Denkens sind vorhanden. Diese Konstellation ist die Grundvoraussetzung des Adelungschen Aufklärungs- wie Kulturbegriffs, dessen wir uns bewusst sein müssen, wenn wir den Fokus auf die Perspektive 'Aufklärung und Wörterbuch' im Rahmen des kulturgeschichtlichen Konzepts von Adelung lenken.


Um dieses kultur- und sprachgeschichtliche Ideengerüst also soll es im Folgenden gehen. Ich möchte die Perspektive 'Aufklärung und Wörterbuch' (als ein Aspekt des Kulturbegriffs Adelungs) konkretisierend zunächst unterscheiden nach den beiden lexikographischen Prinzipien der Bedeutungs- bzw. Lesartenerklärung und der den Wortgebrauch dokumentierenden Belegung mit Beispielen und vor allem literarischen Zitaten. Damit sind zwei lexikographische Grundsätze der Erkenntnisvermittlung, nämlich die Darstellung der lexikalischen semantischen Struktur (2.1) und die Autorisierung dieser Darstellung durch Beispiele und Belege (2.2), auf unseren Gegenstand übertragen. Anschließend werde ich die Darstellung des Kulturkonzepts Adelungs vervollständigen mit der für dieses Konzept zentralen Kategorie des Geschmacks (2.3).


2.1 "klare und deutliche Begriffe" – Semantische Strukturen


"Klare und deutliche Begriffe" kennzeichnen den aufgeklärten Verstand. Dem Wörterbuchbenutzer zu diesem zu verhelfen, ist die Aufgabe, zu deren Erfüllung sich der Lexikograph Adelung selbst verpflichtet. Lexikographie, so können wir seine Artikel Aufklärung und aufklären lesen, ist Aufklärung. Dieses Programm formuliert Adelung auch in den Vorreden zu den beiden Bearbeitungen seines Wörterbuchs, und es hat zwei Aspekte, einen systematischen und einen historischen. Ganz im Sinn seines eigenen Aufklärungsbegriffs legte er sich


"die Pflicht auf, den Begriff eines jeden Wortes und einer jeden Bedeutung desselben auf das genaueste zu bestimmen; eine Pflicht, deren Erfüllung mir bey dem ganzen Werke die meiste Mühe verursachte.“ (Adelung 1793, S. VI) Diese Systematik der Darstellung, die in der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen der "sinnlichen" (d.i. konkreten) und der "figürlichen" (d.i. übertragenen) Bedeutung besteht, ist nicht anders als historisch angelegt. Der Historiker Adelung ordnet die Lesarten – selbstverständlich, möchte man sagen – chronologisch:


„Die Bedeutungen, welche in den meisten Wörterbüchern nur auf gut Glück durch einander geworfen zu werden pflegen, sind der Sache gemäß geordnet, das ist, wie sie vermutlich aus und aufeinander gefolget sind." (Adelung 1773, S. XIV) Adelung stellt sich die ehrgeizige diachronische Aufgabe, die "Leiter" von der ersten, "gemeinglich individuell[en]" Bedeutung bis zu seiner Gegenwart systematisch Sprosse für Sprosse zu erklimmen und dabei jede Sprosse als einzelne Bedeutungsfacette zu verzeichnen:


„Um die Leiter der Bedeutungen so vollständig als möglich zu liefern, habe ich viele veraltete, wenigstens im Hochdeutschen Veraltete, Bedeutungen mit eingeschaltet, wenn sie zur Aufklärung der noch vorhandenen dienten. Dessen ungeachtet hat sich doch der Gebrauch eines Wortes nur selten so genau bestimmen lassen, dass derselbe auf alle vorkommenden Fälle passen sollte.“ (ebd.) Die „Leiter der Bedeutung“ rekonstruiert Adelung in Anlehnung an die von ihm sehr geschätzte 'Abhandlung über den Ursprung der Sprache' Johann Gottfried Herders aus dem Jahr 1772, auf die er im dritten Teil des ‚Versuch’ verweist: Der allmähliche Entwicklungsgang der Sprache und des menschlichen Geistes (nach der Regel „Die Natur macht keine Sprünge“) führt von sinnlich bzw. eigentlich zu figürlich bzw. übertragen, von konkret zu abstrakt, und das Auffinden der ersten sinnlichen Bedeutung und der einzelnen Sprossen der Bedeutungsleiter ist vornehmlicher Gegenstand seiner lexikographischen Bemühungen. Selbstkritisch räumt er allerdings ein: „Vielleicht wird die getroffene Classifikation in manchen Fällen Linnäisch erscheinen“ (Adelung 1773, S. XIVf.). Diese Befürchtung war nicht ganz unberechtigt. Die Weimarer Dichterfürsten stellen in ihrem berühmten, auf Adelung zielenden Distichon 'Der Sprachforscher' einander gegenüber den (vom Lexikographen) sezierbaren Körper der Sprache (Kadaver) einerseits, ihr dem Zugriff des Anatomen entzogenes Wesen (Geist, Leben) andererseits.


Aufklärung als lexikographisches Prinzip der Lesartenanalyse – wie schlägt sich die „linnäische“ Klassifikation nieder? Zum Beispiel im Artikel bilden: Adelung unterscheidet zwei Hauptlesarten, 1. 'einem Körper seine äußere Gestalt geben', 2. 'die Gestalt einer Sache nachahmen, abbilden', eine Lesart, in der das Wort wenig mehr gebraucht werde, außer in der Verbindung bildende Künste. Die erste Hauptlesart unterscheidet Adelung wiederum in 1) 'mit Ertheilung der äußern Gestalt verfertigen', es ist dies die eigentliche und weitere Bedeutung, und in 2) den figürlichen, also übertragenen Gebrauch, der wiederum unterschieden wird nach (a) 'den Fähigkeiten des Geistes und Willens die gehörige Richtung geben' und (b) 'einbilden, vorstellen', eine "jetzt veraltete[..] Bedeutung". Die Bedeutungsstruktur des Verbs ist also wie folgt wiedergegeben:

bilden


1. einem Körper seine äußere Gestalt geben


1) Eigentlich und in weiterer Bedeutung, mit Ertheilung der äußern        Gestalt verfertigen    


2) Figürlich


(a) Den Fähigkeiten des Geistes und Willens die gehörige Richtung geben         


(b) Einbilden, vorstellen


2. Die Gestalt einer Sache nachahmen, abbilden


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Als vorläufiges Fazit lässt sich formulieren: Aufklärung durch sorgfältige Analyse und Abgrenzung der Lesarten eines Lemmas ist ein von Adelung streng verfolgtes lexikographisches Prinzip, und es ist ein aufklärerisches Prinzip. 'Klare und deutliche Begriffe' – Adelung als Lexikograph ist Aufklärer: Er strukturiert die lexikalische Semantik der Wörter, gibt also 'klare und deutliche Begriffe' von ihnen und leistet somit – dieses Selbstverständnis wird er gehabt haben – einen Beitrag zur kulturellen Fortentwicklung.


2.2 "eine hinlängliche Anzahl Beyspiele" – Autorität des Zitats


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Aus: Die Konstruktion von Unschuld in der frühen Nachkriegszeit
Zum Schulddiskurs in der DDR
Dijon, 11. Mai 2007
Einleitung
Strategien
Stereotypisierung: antifaschistische Kämpfer
Enthistorisierung: Nationales Kulturerbe
Idealisierung: Frieden - Freiheit - Demokratie
Schluss


Einleitung
Wir deutschen Kommunisten erklären, daß auch wir uns schuldig fühlen, indem wir es trotz der Blutopfer unserer besten Kämpfer .. nicht vermocht haben, die antifaschistische Einheit .. entgegen allen Widersachern zu schmieden. (KPD 1945, S. 16)

Kommunistische Schuldanalysen münden nicht zuletzt in Schuldbekenntnisse, z.B. abgelegt im zitierten Gründungsaufruf der kommunistischen Partei aus dem Jahr 1945. Kommunistische Schuldbekenntnisse benennen auch die Konsequenz: auch den deutschen Hitlergegnern [fällt] ihr Teil der Verantwortung zu für die Kapitulation ihres Volkes vor Hitler im Jahre 1933 erkennt Alexander Abusch (Abusch 1946, S. 256f.). Wir sehen also: Es gibt Schuldanalysen kommunistischer Provenienz und diese Analysen ergeben durchaus Schuldbekenntnisse. Gleichzeitig gelingt es kommunistischen Zeitgenossen der frühen Nachkriegszeit, die DDR als nicht zuständig auszuweisen, Unschuld zu konstruieren.


Strategien
Die Schuld-Konzeption der DDR ist Ergebnis von Geschichtsselektion - ich zitiere Peter von Polenz: "Im Sozialistischen Arbeiter- und Bauern-Staat wurde der Hitler-Faschismus aus marxistischen Entwicklungsgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft, des Kapitalismus und Imperialismus erklärt, nicht aus dem spezifisch deutschen Nationalismus, so daß ein Bewußtsein von Vergangenheit und Schuld für die DDR-Bevölkerung nicht in Betracht kam, also ideologisch allein der BRD und den Westdeutschen zugeschoben wurde" (v. Polenz 1999, S. 558). Es ist ausgemacht: Einen bekennenden Schulddiskurs hat es in der DDR (in die ich die SBZ einbeziehe) nicht gegeben. Wenn man über Schuld nachgedacht hat, dann nicht in Kategorien von Schuldeinsicht, aus der sich dann entsprechendes politisches und gesellschaftliches Handeln abgeleitet hätte, sondern in Kategorien von Schuldabwehr. Im Folgenden gilt es den sprachlichen Nachweis zu führen; zu zeigen, wie diese Geschichtsselektion sich sprachlich ausdrückt durch verschiedene Strategien. Ich nenne sie Stereotypisierung, Enthistorisierung und Idealisierung. Um die soll es im Folgenden gehen. Es sollen das Stereotyp des antifaschistischen Kämpfers, die enthistorisierte Kulturtradition und die idealisierten Politik- und Gesellschaftskonzepte Frieden-Freiheit-Demokratie als strategische diskursive Elemente aufgewiesen werden, die diese Geschichtsselektion sprachlich manifestieren.


Aus: Schuldperspektiven - Heimrad Bäcker und der NS-Diskurs
Verleihung des Heimrad-Bäcker-Preises. Linz, 19. Juni 2007



"es ist ganz einfach, die atemzüge hören auf, einmal bei dem, dann bei jenem .. die leichen bleiben auf den betten liegen, neben den lebenden oder halbtoten" (Levy-Haß, Tagebuch Bergen-Belsen 1944/45; n/117) 

"die völkerwanderung der juden werden wir in einem jahr bestimmt fertig haben; dann wandert keiner mehr" (Himmler; 71)

"die deportationszahlen für die zonen I bis V sind in der tabelle 71 wiedergegeben" (Hilberg, Vernichtung; 52) drei Äußerungen, drei Perspektiven, ein Gegenstand - ein Opfer, ein Täter und ein Historiker reden über den Nationalsozialismus. Diese Äußerungen sind einander nicht vermittelbar. Denn: Die Redenden haben Erfahrungshorizonte und Wirklichkeitswahrnehmungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Nur über ihr Thema - die Verbrechen der Nationalsozialisten - sind sie aufeinander beziehbar. Diese Verbrechen sind Gegenstand eines Diskurses, der als Schulddiskurs spätestens seit 1945 Teil der sprachlichen Wirklichkeit ist. Das Werk Heimrad Bäckers gehört dazu.

Meine sehr verehrten Damen und Herren - ich bin bei meinem Thema: ,Schuldperspektiven'. Ich möchte unter dem Aspekt Schuldperspektiven Heimrad Bäckers Hauptwerk, ,nachschrift' und ,nachschrift 2', als Beitrag zum nachkriegsdeutschen Schulddiskurs beschreiben - zunächst, indem ich beispielorientiert zwei zentrale Darstellungsverfahren Bäckers vergegenwärtige; dann, indem ich Bäckers Beitrag diskursgeschichtlich bewerte. - Ich erinnere Sie daran, dass keine Literaturwissenschaftlerin vor Ihnen steht.

,Schuldperspektiven' also: Das System ,nachschrift', wie Bäcker sein komplexes Darstellungsverfahren nennt, hat einen identischen komplexen Gegenstand, und jeder Text in diesen beiden Werken ist gleichsam eine Facette des Ganzen: ,System nachschrift' - das meint, in Bäckers eigener Formulierung, "Reihung, Wiederholung, Aufzählung, Aussparung oder einfache Wiedergabe von Zitaten", es meint ein "Verfahren 1:1 (.. Dokument = Text)", es meint "Reduktion, Wiederholung, Montage, serielle Mittel". Die Sinn-Einheiten haben die Form von Sprache und Zahlen, von Augenzeugenberichten und Fahrplänen, von verwitterten Papierschnipseln und von programmatischen Texten, von Tagebucheinträgen und Briefen, von Aussagen, Formularen, Tabellen - die "Banalität des Bösen .. widergespiegelt in der Banalität der Formeln des Todes". Immer aber: der Völkermord im Zitat. Bäcker setzt es in Opposition zum Narrativen: "Im Zitat kann sich die Subjektivität (des Täters, des Opfers) kundtun, ohne durch Literatur gebrochen zu sein. Die Reflexion des Zitats durch den Autor geschieht durch zitieren. Der Körper des Wortes füllt sich mit dem zurückgenommenen Ausgesagten."

Formenvielfalt bezieht sich nicht nur auf die Textsorten, sondern auch auf die sprachliche Präsentierung im engeren Sinn: Bäcker verwendet Zahlen und Symbole, Wörter und kurze Aussagesätze, erklärende Hypotaxen bis hin zu narrativen Erzählpassagen und längeren Äußerungseinheiten. Immer aber aus einer drei Perspektiven: der Völkermord aus der Sicht der Opfer, aus der Sicht der Täter und der Völkermord als Gegenstand forensischer und wissenschaftlicher Bearbeitung aus der Sicht gleichsam der Nichttäter. Das ,System nachschrift' - es besteht auch in diesem Perspektivenwechsel, in der Fokussierung desselben Gegenstands aus verschiedenen Blickwinkeln, Perspektivität der Sichtweisen auf den Zivilisationsbruch. Diese Perspektivenwechsel werden selbstverständlich sprachlich reflektiert: Opfer, Täter, Nichttäter reden verschieden über den Nationalsozialismus. Wirklich? Wir erwarten dies und finden uns auch in der Regel bestätigt, werden jedoch mitunter feststellen: Die Täter zwingen sowohl Opfern als auch Nichttätern ihre Sprache der Buchhaltung und Verwaltung des Mordens auf, zwingen zu sprachlicher Adaption. Sprachenwechsel und Sprachadaption möchte ich am Beispiel von zwei Darstellungsformaten präsentieren, die ich Isolierung und Serialisierung nenne. Isolierung und Serialisierung sind Formate, in die Bäcker das Thema ,Verbrechen des Nationalsozialismus' bringt und die er in Beziehung setzt zu den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten. Dass Texte der Täterperspektive dominieren ist dabei möglicherweise auch ein Reflex der Machtverhältnisse von 1933ff.


Aus: Sprachgeschichte als Umbruchgeschichte
Sprache im 20. Jahrhundert und ihre Erforschung
Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache 6. - 8. März 2007

Vorbemerkung



"Heute ist der Bruch mit dem sprachlichen Universum des Establishments radikaler: in den militantesten Formen des Protests steigert er sich bis zu einer methodischen Umkehrung der Bedeutung" (Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, 1969)

schreibt Herbert Marcuse in ,Versuch über die Befreiung' 1969 und manifestiert damit ein Umbruchbewusstsein, das sogar eine sprachkritische Perspektive hat. Marcuse vergleicht die "Wirklichkeiten" der Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts mit der Widerstandsbewegung seiner Gegenwart Ende der 60er Jahre. Alle Elemente eines Umbruchsbewusstseins sind vorhanden: das temporale deiktische Adverb heute, das die Gegenwart stark markiert, der Verweis auf Sprache - sprachliches Universum - und Kategorien, die sprachliche Veränderungen bezeichnen: Bruch mit dem sprachlichen Universum und Umkehrung der Bedeutung.

Meine Damen und Herren, ich bin bei meinem Thema. Ich möchte für die Beachtung des sprachlichen Umbruchs als eines Phänomens der Sprach(gebrauchs)geschichte werben, indem ich Ihnen ein Programm vorstelle, dessen Erkenntnisziel auf die initialen Momente sprachlicher Veränderung gerichtet ist. Dieses Programm einer sprachlichen Umbruchgeschichte setzt zum einen Gesellschafts- und Sprachgeschichte unmittelbar zueinander in Beziehung und zielt zum andern auf einen sprachgeschichtlichen Punkt - eine Fragestellung, die es ermöglicht, Periodengrenzen sprachentwicklungsgeschichtlich zu präzisieren und die sprachliche Dynamik innerhalb einer Periode zu erklären.

Den Nachweis, dass diese Fragestellung durchaus erkenntnisträchtige Befunde der Sprachgeschichte zu Tage fördert, möchte ich erbringen, indem ich das Programm einer sprachlichen Umbruchgeschichte integriere in die kulturgeschichtlich ausgerichtete sog. externe Sprachgeschichte. Es ist dies das disziplinäre Axiom, das plötzliche gesellschaftliche Veränderungen an sprachliche Verschiebungen bindet. Danach skizziere ich dieses Programm im Kontext von sprachgeschichtlichen Periodisierungstheorien. Es geht dabei um Paradigmen der Sprachgeschichte zwischen der longue durée der Systementwicklung und der Ereignishaftigkeit sprachlicher Innovationen. Drittens buchstabiere ich Leitideen dieses Programms einer sprachlichen Umbruchgeschichte aus. Es steht im Horizont eines diskursanalytischen Ansatzes, der im Hinblick auf diejenigen sprachlichen Ebenen differenziert wird, die eine umbruchgeschichtliche Indikatorfunktion haben. Abschließend verdichte ich diese Überlegungen tentativ zu einem Modell eines sprachlichen Umbruchs.


Aus: Sprache und Antisemitismus
Antisemitismus. Tagung der OSZE und der Friedrich Ebert Stiftung, Mannheim, 14. Juli 2006

Vorbemerkung



"Was seind aber die Jüden? in warheit keine Bekenner / sondern Lästerer vnd schänder Gottes vnd Christi"

Am Anfang war die Kreuzigung - es folgt das Repertoire, das wir kennen: 

"Seind sie auch hochschädliche Leuth/ in dem sie müssige Wucherer seind. Sie seind müssige Faullentzer/ haben weder Aecker noch Wiesen/ können keine Handwercker treiben/ auch sonst kein Hand=Arbeit/ sondern gehen müssig/ lassen vns arbeiten vnd im sauren Schweiß vnsere Nahrung gewinnen / sie vnter dessen nehren sich alle auß der armen Christen Schweiß vnd Blut/ vnd leben wohl von dem/ so sie durch Wucher vnd Betrug denselben abschinden" (Balthasar Friedrich Saltzmann: Jüdische Brüderschafft, 1661, Predigt, gehalten anlässlich der Taufe eines Juden; zit. nach Hortzitz 2005, S. 66f.)

Meine Damen und Herren, dieser Text kann als prototypisch antisemitisch gelten: Er isoliert Juden als Gruppe, grenzt sie von einer zweiten Gruppe, der der Christen, ab, und versieht die Gruppe der Christen mit gut, die der Juden mit schlecht bewerteten Eigenschaften. Diese schlecht bewerteten Eigenschaften sind Zuschreibungen, die sich aus Vorurteilen rekrutieren - ich bin bei meinem Thema und formuliere als ersten Leitgedanken:

Antisemitismus wird erzeugt und am Leben gehalten durch den sprachlichen Ausdruck von Vorurteilen.

Der zitierte Text stammt aus dem Jahr 1661 und ist Ausschnitt einer Predigt, die ihr Verfasser anlässlich der Taufe eines Juden gehalten hat. Woraus wir erkennen können: Die öffentliche Äußerung antisemitischer Vorurteile war nicht tabubehaftet, das ist heute anders - ich formuliere als zweiten Leitgedanken:

Antisemitismus ist historisch an unterschiedliche Kommunikationsformen gebunden.

Das Thema ,Sprache und Antisemitismus' soll im Folgenden also im Hinblick auf diese zwei Perspektiven dargestellt werden: zum einen im Hinblick auf Zuschreibungen vermeintlichen jüdischen Wesens, in ihren historisch unterschiedlichen Erscheinungsformen; zum andern im Hinblick auf die Art und Weise, in der über Juden geredet wird, ,antisemitische Kommunikation' möchte ich sie nennen.

Beide Perspektiven sprachlichen Antisemitismus sind natürlich bedingt durch die historischen gesellschaftlichen antisemitischen Ausprägungen. Sie sind vielfach klassifiziert und kategorisiert worden - jede Version begründet und plausibel. Ich möchte vier Grundformen unterscheiden, aus denen sich jeweils historisch bedingte Varianten von Antisemitismus entwickeln:

Zum einen die des religiös motivierten Antijudaismus mit gesellschaftlich-ökonomischem Antisemitismus, zum andern die des rassistischen Antisemitismus, mit nationalem Antisemitismus. Die dritte Grundform ist die des faschistischen Antisemitismus, die hinsichtlich ihrer exterminatorischen Erscheinungsformen beispiellose Version. Die vierte Grundform ist mit der Zäsur im Jahr 1945 anzusetzen - Antisemitismus nach der Schoa hat eine grundsätzlich andere Dimension als jegliche präfaschistische und faschistische Form von Judenhass. Auch der postfaschistische Antisemitismus hat unterschiedliche Erscheinungsformen. Es werden im Allgemeinen zwei Formen unterschieden, die des neonazistischen und die des latenten Antisemitismus. Ich möchte eine dritte Version einführen, die des populistischen Antisemitismus.

Diese Reihe gibt nicht eine strenge chronologische Folge wieder und die Kategorien sind nicht unbedingt trennscharf voneinander abzugrenzen: Der mittelalterliche Antijudaismus z.B. ist nicht gänzlich verschwunden, der Rassenantisemitismus ist nicht erst ein Phänomen der Vererbungslehre des 19. Jahrhunderts. Orientierung aber geben diese Kategorien allemals.

Worum soll es nun also im Folgenden gehen? Ich möchte zunächst die Geschichte der antisemitischen Zuschreibungen skizzieren - solche Zuschreibungen stellen sozusagen die inhaltliche Ausstattung des sprachlich vermittelten Antisemitismus dar. Diese Zuschreibungen werden in dem anschließenden Abschnitt im Hinblick auf den Gegenstand 'Sprache und Antisemitismus' eingeordnet. Danach möchte ich das Thema ,Sprache und Antisemitismus' unter das Zeichen antisemitischer Kommunikation stellen - diese Perspektive soll als neues antisemitisches Phänomen des Postfaschismus dargestellt werden. Der Vortrag schließt mit der Formulierung gesellschaftlicher Aufgaben.


Aus: Siegfried Einstein - Dichter, Emigrant, Zeitkritiker
Spurensicherung. Zum 40. Todestag von Ernst Toch (1887-1964). Mannheimer Emigrantenschicksale. Mannheim, 12./13. November 2004

Einführung: Der Dichter Einstein



"Ich habe ein Leben lang/gekämpft, gefürchtet, geweint, gelacht, gestritten, / geschlichtet, gewußt, gehofft, gebeichtet, gelogen, / .. / gepeinigt, geheiligt, getreten, gedacht, geblödelt, / gerufen, gehorcht, geliebt, gelebt - gelebt, / gelebt. Gelebt? - Geträumt vom LEBEN!"

Dieses Gedicht, das ich hier stark verkürzt habe, ist überschrieben Mein Leben. Es datiert vom 11. April 1983, vierzehn Tage später, am 25. April 1983, ist Siegfried Einstein gestorben.

In höchstem Maß verdichtet stellt er sein Leben in diesem Gedicht dar, ein Leben, dessen Spuren in einer umfangreichen Hinterlassenschaft zugänglich sind. Eine annähernd diesem komplexen Leben entsprechende Darstellung ist hier nicht zu leisten. Vielmehr müssen einige wenige Schlaglichter genügen. Sie sollen eine Skizze sein, sie sollen aufmerksam machen und anregen, den Nachlass Siegfried Einsteins systematischer zu dokumentieren und darzustellen, als es hier möglich ist. 

Kommen wir noch einmal zurück auf die eben zitierten Verse: Unter den 61 verschiedenen Tätigkeiten, die Einstein in ,Mein Leben' aufzählt, fehlt eine, von der wir sagen müssen, dass es die wichtigste war: ,Ich habe ein Leben lang gedichtet' - zu dieser Aussage hat sich Einstein nicht verstanden, obwohl es doch wohl eine der zutreffendsten ist. Die dichterische Neigung Einsteins hat sich früh ausgedrückt. Die gut situierte Bürgerlichkeit seines Elternhauses - Einstein wird 1919 in der schwäbischen Gemeinde Laupheim als Sohn eines wohlhabenden Besitzers des größten Textilkaufhauses in dieser Region geboren - diese Wohlhabenheit also und die Begeisterung seiner Familie von seinen ersten dichterischen Versuchen haben ihm Raum geboten, seine Begabung zu befördern. Unter der Archivnummer 141 finden sich in seinem Nachlass in Sütterlin niedergeschriebene Gedichte der Jahre 1931 bis 1933. Einstein ist 27 Jahre alt, als sein erster Gedichtband, Melodien in Dur und Moll, im Jahr 1946 erscheint. Er findet Beachtung, zumal bei den berühmten Emigrantendichtern Thomas Mann ("Es ist viel Innigkeit und lautere Bewunderung Gottes in Ihren Worten.") und Hermann Hesse - ihre Briefe an Einstein sind in seinem Nachlass aufbewahrt. Es folgen die Novelle Sirda, die Erzählung Thomas und Angelina (1949), Das Schilfbuch (1949), die Gedichtsammlung Das Wolkenschiff (1950) - als produktivste Zeit seines dichterischen Schaffens müssen wir die ersten Nachkriegsjahre betrachten, vor seiner Remigration von der Schweiz in die Bundesrepublik im Jahr 1953. 

,Ich habe ein Leben lang gedichtet' - Dichten ist ihm Auftrag und mit Auftrag überschreibt er ein Gedicht in der Sammlung Das Wolkenschiff: "Präg neue Worte, Dichter! / Aus dem abgegriffenen Gold / stanze funkelnde Gebilde, / wirf ins Dunkel grelle Lichter, / schleudre Flammen in die Nacht! // Reiß die morschen Mauern nieder, / Gottes Auftrag zu bestehn! / Worte werden nicht geboren / bei Glyzinen und bei Flieder: / Unter Qualen reift ein Wort. // Preis der Seele rote Schmerzen / und die heilige Minute, / da ein Zuckendes sich löst / dir vom überwachen Herzen: / einer Silbe weißer Leib."

Einstein beschreibt hier den dichterischen Prozess, die Produktionsphase des Kunstwerks - "Gottes Auftrag" zu erfüllen ist quälerisch, so haben es die Dichter zu allen Zeiten empfunden und beschrieben, Einstein ist da keine Ausnahme: "Unter Qualen reift ein Wort" - Einstein ringt mit der Sprache, wie Dichter tun, sie tun es in Einsamkeit, ein Tagebucheintrag von 1951 thematisiert diese Einsamkeit: "Nicht einmal meine besten Freunde wissen, wie qualvoll dieses Suchen - ich möchte es ein fanatisches Suchen nennen - nach sprachlichem Ausdruck ist. Um eines Eigenschaftswortes willen, das Näheres über die Gebärde einer Liebenden aussagen soll, kann ich von Mitternacht bis Sonnenaufgang liegen und mir das Mark meiner Seele zerquälen."

Dieses Thema ist dargestellt in der Erzählung Thomas und Angelina: "Das mit dem Niederschreiben ist .. eine traurige Sache. Man hat einen Gedanken, einen, von dem man sagen könnte, er sei schön gewachsen. .. ein schlanker und wohlgestalter Gedanke, der ganz unerwartet und plötzlich über den Rand der Schale hinaufsteigt, in der die Seele lebt. Er will also hinaus, weg von dir, der ungeduldige Gedanke. Dagegen wäre nichts einzuwenden. Aber nun kommt das Traurige an der Geschichte. Dieser wunderschöne und stolze Gedanke verlangt nämlich nicht mehr und nicht weniger, als von deiner Hand niedergeschrieben zu werden - mit Bleistift oder Feder, auf weisses oder blaues Papier. Und noch während du ihn aufs Papier setzest, mußt du erkennen, wie plump und häßlich er sich dort ausnimmt." (Thomas und Angelina S. 26f.)

Dem Kampf mit den Wörtern steht entgegen die Ehrfurcht vor dem Kunst-Produkt, vor dem fertigen Werk - andächtig und demütig begegnet Einstein einem eigenen Gedicht am Radio, ,Weihnacht für Kang Koo Ri' wird gelesen: "Ergriffen stand ich vor dem Apparat und lauschte den Worten des Rezitators" beschreibt Einstein die Wirkung seiner Begegnung mit sich selbst, und er empfindet "unendliche Gnade, ein Dichter sein zu dürfen, ganz Becken für den göttlichen Strom eines Verses!" "Gnade" und "göttlicher Strom" - das sind Verdichtungen, die Einsteins Haltung zu seiner Kunst und zu seinem Künstlertum begrifflich erfassen.

Dichter haben Vorbilder, haben inspirierende Lieblingsdichter. Rilke (den Cornet liest Einstein wieder und wieder) und Hesse (Siddharta), Heine, Brecht und Borchert zählen zu seiner Lieblingslektüre. Die Formulierung Einsteins aus dem Schlaflied für Daniel "Die Scheiben klirren im Wind" ist ohne Hölderlins "und die Fahnen klirren im Wind" (Hälfte des Lebens) nicht zu denken. Dominierend scheint jedoch der expressionistische Einfluss, und ganz besonders derjenige Georg Trakls zu sein: "Beim Lesen eines Trakelschen Verses erlebe ich den alle Erfahrung übersteigenden Augenblick: das Wunderbare, das schlechthin Unsagbare .. Nur die religiöse Verzückung der Nonne ist dem stummen Aufschrei des Dichters vergleichbar. In beiden wohnt Gott wie der Kern in der Schale" lesen wir in seinem Tagebuch. Die Spuren Trakls in Einsteins Gedichten sind unübersehbar, nicht nur hinsichtlich der Bearbeitung von gleichen Themen, wie etwa Einsamkeit, Heimatlosigkeit, Kindheit; nicht nur hinsichtlich des expressionistischen emphatischen Ausstoßes "O", "O Mensch", den Einstein variiert zu "O Trost", "O Irrsinn", "O Schwester", "O List des Herzens", "O diese Augen", "O weisse Kissen", "O Nacht" und das Trakl in Varianten wie "O ihr dunklen Augen", "O die Nähe des Todes", "O ihr zerbrochenen Augen", "O Narr! O Tor!", "O Herz" gebraucht. Wir können stärksten Einfluss Trakls z.B. hinsichtlich der Wahl von Farbadjektiven vermuten. Ist es Zufall, dass beiden Dichtern in auffallend hoher Intensität und Frequenz die gesamte Farbpalette verfügbar ist, ist es Zufall, dass beide eine offensichtliche Vorliebe für "weiß" haben? Dafür sprechen nicht die konventionellen Verbindungen Einsteins wie "weißes Sterbekleid", "weiße Rosen", "weiße Haut", "weißes Linnen", oder Trakls "weiße Wolken", "weiß der Mond", "weißes Linnen". Sondern es ist der assoziative und symbolische Gehalt, der Einstein zu Formeln veranlasst wie "weiße Räume", "weiße Nacht", "weiße Einsamkeiten", "weiße Stille", der Trakl Formulierungen wie "der Fremden weißer Schatten", "weißer Schlaf", "weiße Stimmen" eingibt.Solche Rezeptionsspuren gründlich zu rekonstruieren müssen wir uns hier leider versagen. Es ist dies ist ein Gegenstand, auf den ich jedoch eindringlich verweisen möchte. 

Aus: Telling the Truth. Counter-Discourses in Diaries Under Totalitarian Regimes
Nazi Germany and Early GDR. Political Languages in the Age of Extremes
Conference at the German Historical Institute London
March 26-27, 2004

Introduction



"Writing is strictly forbidden, however I do it. .. I [consider] it a huge personal relief. The word benevolently pushes itself, isolating me from the naked experience of detention."

(Es ist streng verboten zu schreiben. Ich tue es trotzdem. .. ich [halte] es für eine große persönliche Wohltat. Das Wort schiebt sich gnädig isolierend zwischen mich und das nackte Erlebnis der Haft. (22.10.1944; Luise Rinser, Gefängnistagebuch S. 17))

Luise Rinser, German poet, notes this as prisoner on remand in 1944. Ladies and gentlemen, we talk about diaristics under the conditions of totalitarism. This short quotation by Luise Rinser shows what we have to deal with in this respect: A diary is a text type of extreme privacy. Most intimate feelings, thoughts, and desires are kept in it, basic experiences of human existence. Basic experiences under totalitarism are extreme experiences such as imprisonment, persecution, or danger of life. These need the platform of a counter world.

Methodical Remarks

Before we approach these diaristic counter worlds, I would like to briefly integrate the following explanations methodically. These explanations of diaristic style and function of diary writing under special political conditions can be seen as part of the history of mentality. We understand mentality as the whole of manners and contents of thinking and feeling which determine a certain collective at a certain time.As mentality becomes manifest in acting and since speeking (and writing) is a kind of acting, the history of mentality is the investigation and description of the thinking of a group, which becomes manifest by speaking (or writing). This means paying attention to texts and words that are relevant in mentality regards.

Another thought in this context is important: Mentality - this not only means the thinking and feeling of bigger collectives but also of smaller groups in between this collective. So, when we describe the diaristics of certain persons of contemporary history under certain political conditions, we interpret mentalities as a mirror of social und cultural experiences in the context of a special living world.

We are now going to reconstruct three types of diaristics, the diaries of Willi Graf and Ulrich von Hassell on the one side - they are examples for two versions of dissident diaristics under the condition of Nazi totalitarism; and on the other side, the diary of Victor Klemperer - a type of diaristics first under conditions of persecution and oppression, then under the condition of adjustment - you find the disposition on the screen.


Aus: The Language of the Victors: The Americanization of the German Language and German Identity after 1945
German Historical Institute, Washington, March 20, 2003



"It became springtime in the German country .. when from the south, out of the valleys a pompous ragged procession of voters moved here, carrying two old panels.//Rotten of pricks the wood was/and the inscription very faded,/and it was something like/liberty and democracy."

Ladies and Gentlemen, this is the beginning of a poem by Bertolt Brecht, entitled Freiheit und Democracy 'Liberty and Democracy'. The German version of the quoted verse reads as follows:

"Frühling wurd's im deutschen Land. .. als von Süden, aus den Tälern,/herbewegte sich von Wählern/pomphaft ein zerlumpter Zug,/der zwei alte Tafeln trug.//Mürbe war das Holz von Stichen/und die Inschrift sehr verblichen,/und es war so etwas wie/Freiheit und Democracy."

Brecht published this poem in 1948, the year of his return into the Soviet occupied zone, the zone, where his intellectual orientation paralleled the government. Today, I can not translate the poem in its entirety: It deals with Germany's post- war atmosphere. Churchmen, industrialists, teachers, doctors, scientists, journalists, honourable citizens, politicains, traders, jugdes, artists, musicians, master poets, SS, Nazi-women, informers - not only do they claim innocence, but they also call for, yes, insist on Freiheit und Democracy, which is not only the title, but also the refrain of this long ballad.

".. For defense industry/liberty and democracy .. also for chemicals/liberty and democracy. .. The SS .. she as well needs liberty, liberty and democracy .."

(".. Für die Rüstungsindustrie/Freiheit und Democracy. .. auch für die Chemie/Freiheit und Democracy. .. Die SS .. Freiheit braucht auch sie,/Freiheit und Democracy ..")

Now, why does Brecht use the German word Demokratie in the English version democracy? Not for - so to say - technical reasons of meter or rhyme: Demokratie and democracy have the same, that is, four syllables and the same ending /e/. What Brecht does here is: He expresses the cirmumstance, that democracy is a typical American arrangement. Although the Soviets - at least verbally - also took up so called democratizing the Germans, it was primarily an American job. Because the Americans were the dominant occupying force, the dominant form of this term is the English one. It is the version, which the contemporaries were in close touch with, whose sound they had in their ears, all the more the returned emigrants, who spent their time in the United States and even those with a socialistic orientation, like Bertolt Brecht. 

We can read this poem in the context of our subject tonight. This poem is the literary aesthetization of the German linguistic state in the early post-war time: it is an expression of the social and political state. Assuming that Americanization is a phenomenon of the language and societal connection, we describe linguistic Americanization as a result of the political and social post-war circumstances. So, we are now going to look more meticulously: We will observe a particular linguistic process - Americanization - of a particular language - German - linked with a particular self-relation - identity - at a particular time of high historical significance - 1945 as the beginning of the post-war period. We will also pay attention to what can be regarded as an essential condition of all human relations and of the verbalization of these relations. It is the attitude, in our case, the attitude of Americans towards Germans - which determines American German politics of course - and the German attitude towards the Americans. In the end, the American German politics determines the German willingness to allow the American language in.

Since attitude also concernes self-appraisal, we must consider corresponding utterances as well. We assume, that the Americanization of the German language is influenced by the attitude of the Germans, especially the German intellectuals, towards the American occupators. This attitude again is influenced by the German élite self-assessment.

Finally, we will apply these results to German post-war identity, which was harshly affected after incredibly dreadful German crimes became obvious. So we will interpret the linguistic Americanization as one of several German strategies to overcome the crisis. Therefore, we will link political and social historiography with linguistic historiography. To be more precise: We explain linguistic usage phenomenons as the results of special political and social circumstances, both of which are determined by attitudes, the interaction partners have. Concerning this regard, we can specify the meaning of Americanization. What does it actually mean? The ending -zation, in abstract nouns like democratization, modernization, individualization, verbalization, industrialization, internationalization, digitalization, islamization, etc., describes a process, the development or the turn of someone or something to what is indicated by the stem. So, Americanization is a word formation, that means: 'the becoming American'. 

First of all, I would like to give a very brief survey of the state of today, on the one hand, and, for a moment, over the state of the beginning of the English-German and American-German respectively linguistic friendship, on the other hand. After having specified this historical era, I think, the reqirements are met to elaborate on the exceptional post-war phase in greater detail.



AUFSÄTZE


Aus: "Die Schuldfrage" von Karl Jaspers (1946). Ein zentraler Text des deutschen Nachkriegsdiskurses (2007)


Die Schuldfrage ist mehr noch als eine Frage seitens der andern an uns eine Frage von uns an uns selbst. Wie wir ihr in unserem Innersten antworten, das begründet unser gegenwärtiges Seins- und Selbstbewußtsein. Sie ist eine Lebensfrage der deutschen Seele. Nur über sie kann eine Umkehrung stattfinden, die uns zu der Erneuerung aus dem Ursprung unseres Wesens bringt. Die Schulderklärungen seitens der Sieger haben zwar die größten Folgen für unser Dasein, sie haben politischen Charakter, aber sie helfen uns nicht im Entscheidenden: der inneren Umkehrung. Hier haben wir es allein mit uns selbst zu tun. Philosophie und Theologie sind berufen, die Tiefe der Schuldfrage zu erhellen. (Jaspers 1946, 134) 

Nicht nur Philosophen und Theologen kümmern sich in der frühen Nachkriegszeit um eine Klärung dieser Frage. Auch Politiker und Dichter und Zeitkritiker tun dies - es ist die neue Interpretations- und Funktionselite, die z.T. direkt von den Alliierten mit dem Wiederaufbau der politischen und gesellschaftlichen Struktur beauftragt und um Hilfe bei der Umerziehung der Deutschen gebeten, m.a.W. mit Verantwortung versehen ist. Von einer deutschen Schuld sind sie überzeugt, und eine bequeme Erledigung der Schuldfrage erlauben sie sich mit der Konstruktion der schuldigen Deutschen nicht, im Gegenteil: Sie schaffen sich damit die Notwendigkeit zu differenzieren und nachzuweisen, worin diese Schuld und Verantwortung beim Einzelnen besteht und womit sich ein Reden in dieser Kategorie überhaupt rechtfertigen lässt - Quantifizierung und Qualifizierung von Schuld und Schuldigen lautet ihre selbst gestellte Aufgabe. In diesem Sinn stellen sie die Frage nach der Schuld als Frage nach der Schuld der Täter als den wirklich Schuldigen, als Frage nach der eigenen Schuld, derjenigen also, die es, als Angehörige der geistigen Elite, hätten besser wissen müssen als eine Frage von uns an uns selbst (Jaspers), nach der Schuld der Deutschen schließlich - als eine Lebensfrage der deutschen Seele (Jaspers). Der Beitrag Karl Jaspers' zu dieser Klärung ist eine philosophische Vorlesung.

Im Wintersemester 1945/46 hält Karl Jaspers nach mehrjähriger erzwungener universitärer Abstinenz eine Vorlesung zu dem Thema "Über die geistige Situation in Deutschland". Derjenige Abschnitt, der von der Schuld der Deutschen handelt, ist mit "Die Schuldfrage" überschrieben. Die ,Schuldfrage' ist bis heute einer der wichtigsten Texte, die sich mit der deutschen Vergangenheit 1933 bis 1945 auseinandersetzen. Er war in den ersten Nachkriegsjahren der wichtigste Beitrag zu den durchaus zahlreichen zeitgenössischen Schuldanalysen. Von daher rechtfertigt sich eine Beschäftigung mit dem Text der ,Schuldfrage' aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive. Denn die Darstellung und Beschreibung zentraler Texte der deutschen Sprache ist eine der wichtigen Aufgaben der Sprachwissenschaft. Die Bedeutung des Textes ist im Folgenden im Sinn einer linguistischen Hermeneutik zu erschließen.

Diese Aufgabe bedeutet: Textverständnis herstellen mit demjenigen Instrumentarium, dessen Anwendung am ehesten dieses Verständnis befördern kann. Dieses Instrumentarium ist nicht im Sinn eines universalen, allgemeingültigen, auf Texte gleich welcher Provenienz anzuwendenden Modells zu haben. Es ist der Text selbst, aus dem es abzuleiten ist. So meint linguistische Hermeneutik eigentlich keine Methode. Denn je nach Beschaffenheit eines Textes kann linguistische Hermeneutik methodisch Unterschiedliches bedeuten: ein Gespräch gesprächsanalytisch zu beschreiben, eine Rede hinsichtlich ihrer rhetorischen Figuren, einen literarischen Text in Bezug auf seine Metaphorik usw.

Vielmehr möchte ich linguistische Hermeneutik als ein Anliegen bezeichnen, einen Beitrag zum Verständnis eines Textes zu leisten qua Sprachanalyse. Was bedeutet dieses Anliegen im Fall der ,Schuldfrage'? Der vorliegende Aufsatz versteht sich als ein Beitrag zur praktischen linguistischen Hermeneutik, weil er die Begrifflichkeit eines zentralen Textes der frühen Nachkriegszeit erklärt und ihn in den diskursiven Kontext stellt. Linguistische Hermeneutik heißt also im Folgenden, das Verständnis des Textes von Karl Jaspers zu erschließen über die Erklärung des begrifflichen Netzes des Textes - das heißt in diesem Fall: Deutung der, von Jaspers eingeführten vier Schuldkategorien - und über die Verortung des Textes in dem zeitgenössischen Diskurs, dessen Teil er ist, über seine Einbettung in seinen historischen Kotext.


Aus: Die Konstruktion der KZ-Welt im Gerichtssaal. Das Redeverhalten der Angeklagten im Auschwitz-Prozess. (2007)


Während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses versuchte das Geschworenen-Gericht, den Anteil der angeklagten nationalsozialistischen Handlungsbeteiligten an dem Zivilisationsbruch Auschwitz zu rekonstruieren und auf der Folie der Norm eines Rechtsstaats zu bewerten.

Grundlagen dieser Rekonstruktion und Bewertung waren im Wesentlichen zum einen Ermittlungsergebnisse der Anklage, die diese im Vorfeld der Hauptverhandlung erarbeitet hat und deren Ergebnis der Eröffnungsbeschluss und die 700seitige Anklageschrift darstellen. Zum andern stützt sich das Gericht bei seiner Entscheidungsfindung auf die Aussagen der Zeugen (360 waren erschienen, nicht alle waren glaubwürdig). Die Einlassungen, Aussagen und Erklärungen der zwanzig Angeklagten bestanden im Wesentlichen in Leugnungen der einzelnen, sie betreffenden Schuldvorwürfe, die den Aussagen der Opfer widersprachen. "Angeklagte [bringen] ihre eigene Version dessen, was ihnen in der Anklage zur Last gelegt wird, in die Verhandlung ein [.]" (Hoffmann 1983: 79) - selten hatte diese Feststellung wohl mehr Gültigkeit als zur Zeit des Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965.

Der Frankfurter Auschwitz-Prozess ist seit dem Nürnberger Tribunal der erste große Prozess, der nationalsozialistische Gewaltverbrechen zum Gegenstand hatte, mit, hinsichtlich ihrer Position im nationalsozialistischen Gewaltgefüge, gänzlich anderen Tätertypen, als diejenigen, die etwa Göring oder Speer vertraten. Es sind die subalternen Exekutoren des nationalsozialistischen Menschenvernichtungsplans, die das Frankfurter Gericht als Täter bzw., mehrheitlich, als Tatgehilfen erkannte. Es sind diejenigen, denen die Opfer physisch ausgeliefert waren, diejenigen, die Hand an die Opfer legten und die ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Es ist ein kleiner Teil der Personage des nationalsozialistischen KZ- und Vernichtungsszenarios. Unter ihnen sind "Sadisten oder Schizophrene, die es in jeder Gesellschaft gibt", ebenso wie "die typischen NS-Täter" (Schwan 2001: 74), solche "denen noch ein (rudimentäres) Gewissen schlägt, denen Reste der traditionellen Moral noch gegenwärtig sind und die sich trotzdem an Mord, Lüge, Verrat beteiligen" (ebd.).

Die Nürnberger Hauptkriegsverbrecher, Generäle u.a. dagegen sind die Handlungs- und Funktionsträger des ,Dritten Reichs', die nicht nur Entscheidungen trafen, sondern auch Befehle auf höchster Ebene erteilten, zum Beispiel den Befehl zur sog. 'Endlösung'. Ihr kommunikatives Verhalten vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg oder vor anderen Gerichten ist aus den veröffentlichten Protokollen rekonstruierbar.

Die Schuld der Frankfurter Angeklagten ist aufgrund der unterschiedlichen Sozialstruktur zwischen ihnen und den Funktions- und Entscheidungsträgern des nationalsozialistischen Regimes und ihrer unterschiedlichen Position im System eine andere. Die Schuld der so genannten Hauptkriegsverbrecher von Nürnberg z.B. heißt (u.a.) ,Verbrechen gegen die Humanität'. Die derselben Verbrechenskategorie zugehörende Schuld der Frankfurter Angeklagten dagegen ist konkretisiert zu verbrecherischen Taten, begangen an identifizierbaren, zumindest ungefähr quantifizierbaren Opfern.

Diese sich aus der Sozial- und hierarchischen Struktur ergebenden Unterschiede dieser beiden Tätergruppen lassen Unterschiede des kommunikativen bzw. responsiven Verhaltens der Angeklagten bei Gericht erwarten. Deshalb werden gelegentlich Handlungsmuster der Frankfurter Angeklagten mit denen der höheren Chargen, etwa der Nürnberger Hauptkriegsverbrecher, der angeklagten Generäle oder des in Nürnberg vernommenen Auschwitz-Kommandanten Höß, verglichen. Die Frage, ob und inwiefern sich das kommunikative Verhalten nationalsozialistischer Gewaltverbrecher aufgrund ihres Status in der NS-Hierarchie unterscheidet, wird daher, an ausgewählten Beispielen, beantwortet. 

Gegenstand des folgenden Beitrags ist also das kommunikative, responsive Verhalten der Angeklagten: das Redeverhalten der in Frankfurt angeklagten Auschwitz-Beteiligten im Sinn von "argumentative[n] Kämpfe[n]" (Ehlich 1998: 277). Es ist dies ein pragmatischer Ansatz, um Muster und Funktionen des kommunikativen, responsorischen Verhaltens der Frankfurter Angeklagten zu rekonstruieren. Damit wird ein Beitrag zur nachkriegsdeutschen Diskurs- resp. Kommunikationsgeschichte, speziell zum Schulddiskurs nach 1945 (vgl. Kämper 2005), im institutionellen Kontext forensischer Kommunikation geleistet.


Aus: "Gehorsamspflicht statt Menschenpflicht". Die Urteile Max Silbersteins zu den Erschießungen in den Lauerschen Gärten am 28. März 1945 (2007)


Vorbemerkung: Der Tathergang

"'Das feige Verhalten der Bevölkerung nimmt in der letzten Zeit überhand, so dass mit den schärfsten Mitteln eingegriffen werden muss. Ich befehle, ab sofort in den Häusern, an denen weisse Tücher oder Fahnen geflaggt werden, die männliche Bevölkerung über 14 Jahre an Ort und Stelle zu erschiessen. Wer diesen Befehl nicht ausführt, wird erschossen.'" (I/647)

Wir schreiben den 28. März 1945, die amerikanischen Truppen nähern sich Mannheim, und es ist nur noch eine Frage von wenigen Stunden, bis sie die Stadt - einnehmen, besetzen, befreien? Von Befreiung mag man kaum reden in Bezug auf die Person, um die es im Folgenden vor allem geht. Wie immer: In dieser Situation ergeht der eben zitierte Befehl des Generalmajors Pettersdorf, kommandierender Wehrmachtgeneral dieses Abschnitts. Der Original-Befehl trug die Unterschriften von Keitel, Himmler und Bormann, und er ist Anlass für eine Tat, die als ,Verbrechen der Endphase' als Justiz- und Zeitgeschichte auch ein Stück Mannheimer Stadtgeschichte ist.

Zunächst eine kurze Skizze des Tathergangs: Vom Polizeipräsidium aus macht sich ein Trupp Polizisten unter dem Kommando des Polizeihauptmanns Böse auf den Weg zum Goetheplatz-Bunker, den sie räumen sollten. Dabei kamen sie an dem Gebäude N 7, 4 vorbei, wo aus Fenstern der oberen Stockwerke, weithin sichtbar, zwei weiße Fahnen heraushingen. (I/648) Unternommen wurde zu diesem Zeitpunkt nichts, weil Böse noch keinen ausdrücklichen Befehl, nämlich den eingangs zitierten, hierzu hatte. Er erhielt diesen Befehl kurze Zeit später, während der Räumung des Goetheplatz-Bunkers. Seinen Untergebenen gab er diesen Befehl zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiter. Nach dem Ende der Räumungs-Aktion bestimmt Böse den Rückweg vom Bunker zum Polizeipräsidium so, dass die Polizisten wieder an dem Gebäude N 7, 4 vorbeikommen, aus dessen Fenstern immer noch die weißen Fahnen hängen. Böse schickt nun die Polizeibeamten Hecker und Lauber, die Fahnen einzuholen. Anderen Beamten befiehlt er, das Haus nach Bewohnern zu durchsuchen. Man findet drei Männer: Hermann Adis, er ist Fabrikationsleiter der Eigentümerin des Gebäudes, der Firma ,Samt und Seide', Erich Kurt Heinrich Paul, Expeditionsleiter der Firma, sowie den Hausmeister Adolf Doland. Sie geben zu, die weißen Fahnen gehisst zu haben. Jetzt teilt Böse den Polizeibeamten den kurz zuvor erhaltenen Schießbefehl mit, und zwar in dem angeblichen Wortlaut:

"'Nach einem Himmler-Erlass sind alle Männer über 14 Jahre zu erschiessen, die in Häusern mit weissen Fahnen angetroffen werden. Die Erschiessung ist in den Lauer'schen Gärten vorzunehmen.'" (II/630)

Die Polizisten begeben sich mit den Opfern zu den Lauer'schen Gärten. Dort angekommen, erteilt Böse den Befehl hineinzugehen und, so Böse in der Verhandlung, er habe hinzugefügt: "nur so formlos erschiessen" (II/631) - ein Zusatz, den er in der Hauptverhandlung dem Gericht erfolglos deutet als "lediglich pro Forma erschiessen, das heisst in die Luft feuern" (ebd.). Er selbst geht weiter zum Polizeipräsidium, wo ihm dann später Polizeimeister Hecker die Ausführung der Tat meldet. Eine Äußerung auf diese Meldung hat Böse nicht abgegeben, sondern, wie Hecker zu Protokoll gab, "'nur ernst geschaut'." (II/632) 

Soweit der Tathergang. Er wurde rekonstruiert im Verlauf der Hauptverhandlungen von zwei Prozessen, die sich mit dieser Tat beschäftigt haben. Dieser Verlauf ist in den Urteilsbegründungen dieser Verhandlungen niedergeschrieben.


Aus: Sprach-Perspektiven. Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache (2007)

Einleitung



Der Ursprungsgedanke eines Beitrags zur Wissenschaftsgeschichte ist Leitidee des Sammelbandes, dessen Anlass, das vierzigjährige Bestehen des IDS Gelegenheit bietet, über 40 Jahre Linguistik am Institut für Deutsche Sprache nachzudenken. Der Sammelband zeigt, welche Richtungen und Gegenstände die Forschungen am IDS in den vergangenen vierzig Jahren geprägt haben. Dadurch entsteht ein Profil, wie sich die Forschungen am IDS von der Gründung bis heute hinsichtlich ihrer Themen sowie methodisch und theoretisch formiert haben, wo sich das IDS in der heutigen Forschungslandschaft der germanistischen Linguistik befindet und welche Perspektiven das IDS bzgl. seines Forschungsprofils hat. Die Ergebnisse des Nachdenkens über 40 Jahre sprachwissenschaftliche Forschung leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte unseres Fachs. Sie stellen Entwicklungen bzw. Strömungen der Linguistik aus der Institutsperspektive und in Bezug auf konkrete Projekte dar. Der Sammelband ist damit ausdrücklich keine Festschrift, deren Beiträge das IDS aus unterschiedlichen Perspektiven feiern. Sondern die Beiträge setzen sich mit ihrem jeweiligen Gegenstand auseinander: mit der Rekonstruktion der Institutionalisierung und mit den Forschungsmotiven der dargestellten Projekte, mit forschungsleitenden Fragestellungen und Ergebnissen.

Der Sammelband ordnet Forschungsschwerpunkte und -themen der vergangenen vierzig Jahre in die Forschungslandschaft ein. Er besteht aus Beiträgen, die einerseits die Linguistik am IDS im Verlauf ihrer Geschichte methodisch und theoretisch konturieren, die andererseits die Perspektiven für die Linguistik am IDS andeuten, es werden zentrale (und ggf. historisch veränderte) forschungsleitende Fragestellungen reformuliert, es wird die sprachwissenschaftliche Forschung am IDS im wissenschaftlichen Kontext der Linguistik positioniert, es werden Themen, Gegenstände und Methoden rekapituliert.

D.h., dass die dargestellten Gegenstände der einzelnen Beiträge auch in Beziehung zu den Forschungsparadigmen der germanistischen Linguistik gesetzt werden bzw., wenn eine solche Korrelation nicht besteht, sie als von diesen Paradigmen abgegrenzte Forschungen dargestellt werden.


Aus "Stehst mit höhern Geistern du im Bunde?" - Leitbegriffe des Schillerschen Frauenbildes (2006)


"Eine Frau, die ein vorzügliches Wesen ist, macht mich nicht glücklich"

diese Überzeugung äußert Schiller im Zuge seiner Brautschau (in einem Brief an Körner vom 7. Januar 1788). Wir wollen nicht nur diesem ,vorzüglichen' Wesen, sondern überhaupt der Frau in der Schillerschen Wahrnehmung und Gestaltung auf die Spur kommen, indem wir fragen, wie Schiller über Frauen redet, um ,Leitbegriffe des Schillerschen Frauenbildes' zu erarbeiten.

,Leitbegriffe des Schillerschen Frauenbildes' - der Untertitel dieses Beitrags weckt Assoziationen, die viel mit berühmten Versen von Gedichten Schillers zu tun haben: "Ehret die Frauen, sie weben und flechten himmlische Rosen ins irdische Leben" usw. (Würde der Frauen), oder "Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau" usw. (Lied von der Glocke), oder: "Wer ein holdes Weib errungen mische seinen Jubel ein" usw. (An die Freude). Man denke auch an die an Charlotte von Lengefeld gerichteten Räsonnements:

"mir kommt vor, daß die Frauenzimmer geschaffen sind, die liebe heitre Sonne auf dieser Menschenwelt nachzuahmen und ihr eigenes und unser Leben durch milde Sonnenblicke zu erheitern. Wir stürmen und regnen und schneien und machen Wind, Ihr Geschlecht soll die Wolken zerstreuen, die wir auf Gottes Erde zusammengetrieben haben, den Schnee schmelzen und die Welt durch ihren Glanz wieder verjüngen."

Und dann die Mahnung an Charlotte, diese Pflichtzuweisung ja als Huldigung zu verstehen:

"Sie wissen, was für große Dinge ich von der Sonne halte; das Gleichnis ist also das Schönste, was ich von Ihrem Geschlechte nur habe sagen können, und ich hab' es auf Unkosten des meinigen getan!" (27.11.1788)

Damit will ich sagen: Wir haben ein bestimmtes Bild vom Schillerschen Frauenbild, und Äußerungen wie die zitierten sind die Ursache.

Schiller als Dichter holder Weiblichkeit, als Idealisierer des ,Gattin'-, des ,Hausfrau'-, des ,Mutter'-Typs - das ist indessen eine einseitige Perspektive, eine eingeschränkte Wahrnehmung, die Schillersche Dramenfrauen ausschließt, wie z.B. Johanna, Maria, Elisabeth, Louise - allesamt keine idealen Gattinnen, Hausfrauen, Mütter und dennoch Frauen, zu denen Schiller eine zwar nicht uneingeschränkte Affinität hatte, die er aber doch mit Empathie gestaltet. Auch in seinen Briefen tritt nicht ein stereotypes Ideal hervor, sondern Schiller charakterisiert relativ authentisch, das kann ihm unterstellt werden, die Frauen seiner Lebenswelt so unterschiedlich, wie sie sind. Deren Schilderung ist also nicht Resultat des dichterischen Gestaltungswillens Friedrich Schillers ist. Und schließlich: das weibliche Prinzip in Schillers philosophischer Ästhetik - ein weitere Version von Frau, die des Schönheitsprinzips und der Wahrnehmung von Schönheit. M.a.W.: Wir müssen ein komplexes Frauenbild annehmen, eines, das dem lebensfrohen Mann und Heiratswilligen, das dem klassischen Dichter, und das dem aufgeklärten idealistischen Philosophen Friedrich Schiller gleichermaßen gerecht wird.

Zu fragen ist also, wie Schiller über Frauen redet, und zwar im Brief und im Gedicht, im Drama und im philosophischen Entwurf. In einem Schlusskapitel werden die Grundtypen zusammengeführt und im Sinn eines Schillerschen Frauen-Ideals interpretiert.


Aus: Diskurs und Diskurslexikographie. Zur Konzeption eines Wörterbuchs des Nachkriegsdiskurses (2006)


0 Vorbemerkung

1 Die sprachliche Ordnung des Diskurses: Diskurs als linguistischer Gegenstand

2 Diskurslexikographie

3 Der deutsche Nachkriegsdiskurs

4 Das Wörterbuch zum Schulddiskurs

4.1 Informationsebenen

4.2 Semantische Zentren

4.2.1. Zentralartikel

4.2.2 Schlüsselartikel

5 Fazit

6 Anhang: Beispielartikel (Auszüge aus: Auschwitz, Hitler, Verantwortung)

7 Bibliographische Hinweise

0 Vorbemerkung

Ein Blick auf die gegenwärtige deutschsprachige Wörterbuchlandschaft lehrt, dass es kaum ein Segment sprachlicher Wirklichkeit, kaum eine sprachliche Variante, kaum eine sprachanalytische Perspektive gibt, die nicht lexikographisch bearbeitet ist. Ob diachronisch oder synchronisch, ob semasiologisch oder onomasiologisch, ob begriffsgeschichtlich oder wortbezogen, ob regional, gruppensprachlich oder allgemeinsprachlich angelegt, allen diesen Wörterbüchern ist gemeinsam, dass sie zwar in irgendeiner Weise diskursgebunden sind, ohne jedoch einen Diskurs und seine Komplexität und Kohärenz wirklich zu beschreiben: Ein Wörterbuch zur Jugendsprache oder ein Autorenwörterbuch ist zwar sprecher-, aber nicht themenorientiert, ein onomasiologisches bzw. Synonymenwörterbuch ist zwar thematisch geordnet, aber ohne Bindung an Sprecher und Zeit. Ein synchronisches allgemeinsprachliches Standardwörterbuch ist zwar zeitlich auf den Gegenwartswortschatz beschränkt, es fehlt aber der Sprecher- und Themenbezug. Auch wörterbuchähnliche, diskursnahe Produkte geben nicht eigentlich die Komplexität und Kohärenz eines Diskurses wieder.

Bisherige Wörterbücher und Nachschlagewerke sind also nicht eigentlich nach Diskurskriterien angelegt. Sie sind je spezifisch diskursgebunden unter der Voraussetzung eines allgemeinen Diskursverständnisses als gesellschaftliche Kommunikation, ohne einen eingegrenzten, komplexen und kohärenten Diskurs lexikographisch darzustellen. Keines der Wörterbücher und Nachschlagewerke entspricht also der Komplexität und Kohärenz eines Diskurses, weder bezüglich der Gesamtkonzeption, noch hinsichtlich der Ausführung einzelner Artikel.

Im Folgenden stelle ich das Konzept eines Wörterbuchs zum Nachkriegsdiskurs vor. Dazu werden vor dem Hintergrund der Konstitution des linguistischen Gegenstands 'Diskurs' die Aufgaben einer Diskurslexikographie beschrieben, und der Typ Diskurswörterbuch wird in die Wörterbuchtypologie eingeordnet. Auf dem Raster von fünf Diskursmerkmalen wird anschließend der deutsche Nachkriegsdiskurs skizziert bevor schließlich das Wörterbuch zum Schulddiskurs konzeptuell und strukturell dargelegt wird.


Aus: Trostwerk für die Trauernden. Der Text des "Deutschen Requiems" aus literarischer Sicht (2004)

Vorbemerkung



"Hinwieder habe ich nun wohl manches genommen, weil ich Musiker bin, weil ich es gebrauchte."

Meine Damen und Herren, dieser oft zitierte Satz Brahms' aus einem Brief an den Dirigenten Reinthaler bezieht sich auf die Textauswahl des Deutschen Requiems. Sie wurde von Brahms selbst vorgenommen und war 1861 bis auf den Text des erst 1868 nachträglich eingefügten fünften Satzes abgeschlossen und auf der Rückseite der Urschrift seiner Magelonen-Romanzen op. 33 notiert. Wenn Brahms in seinem eben zitierten Brief von diesen Texten und ihrer Funktion sagt, er habe sie als Musiker ausgewählt, dann suggeriert er damit, die Texte hätten keine inhaltliche, auf der Aussage der Bibelstellen beruhende Relevanz, sondern seien von ihm aus musikalischen Gründen ausgewählt worden. Wir haben kein Recht, an einer solchen Äußerung aus der Selbstperspektive zu zweifeln. So folgt auch die Brahms-Forschung bzgl. ,Deutsches Requiem' der Brahms'schen Selbstaussage, wenn sie etwa feststellt: "Bibel-Texte werden bei Brahms primär funktional für seine musikalischen Absichten benutzt, nicht um ihrer eigenen Aussage willen", oder wenn ein "Vorrang des Musikalischen gegenüber dem Textlichen" ausgemacht wird. Man beglaubigt diese Vorstellung u.a. mit dem im sechsten Satz des Deutschen Requiems zitierten ersten Korintherbrief: "Denn es wird die Posaune erschallen und die Toten werden auferstehen unverweslich." Dies sei nicht die Verkündung der Auferstehung - an die Brahms als liberaler norddeutscher Protestant nicht glauben konnte -, sondern musikalisch motiviertes Symbol: die Posaunen.

Wie immer: Wenn wir auch kein Recht haben, Brahms' eigene Äußerungen zu seinem Werk gleichsam zu korrigieren, haben wir aber wohl das Recht, die Textauswahl - wie die Musik - als Ergebnis eines subjektiven schöpferischen Aktes zu betrachten und als solchen zu interpretieren. Wenn wir auch keine Ambitionen haben, eine Hierarchie der Musik-Text-Relationen zugunsten der Texte plausibel zu machen, haben wir doch Anlass, ihren poetischen und begrifflichen Eigenwert anzunehmen. Die Texte des Deutschen Requiems sind zu sprechend, zu sehr Repräsentationen liberaler protestantischer Gläubigkeit des 19. Jahrhunderts mit ihren poetischen, spirituellen Botschaften menschlichen Denkens, menschlicher Ängste und menschlichen Trostes, als dass wir sie als Element dieses Gesamtkunstwerks unbeachtet lassen könnten. Die Kohärenz der ausgewählten Bibelstellen bezüglich der Vermittlung universaler Erfahrungen von Tod, Trauer, Trost und menschlicher Beziehung zu Gott ist zu offensichtlich, als dass sie aus sprachlicher Hinsicht ignoriert werden dürfte. Vor allem aber: Die Texte als bloße Funktionsträger im Dienst der Musik hieße, ihnen abzusprechen, was sie zweifelsohne haben: einen eminent ästhetischen Wert, der sich nicht zuletzt in dem gefühlvoll-pathetischen Gehalt dieser Texte manifestiert.

Pathetischer Gehalt: "Das Requiem hat mich aber doch freudiger bewegt [als das Streichquartett c-Moll], es ist voll zarter und wieder kühner Gedanken. Wie es klingen wird, das kann ich mir nicht so klar vorstellen, aber in mir klingt es herrlich." (Tagebuch Clara, August 1866) So, meine Damen und Herren, lautet ein Eintrag in Clara Schumann-Wiecks Tagebuch im August 1866. Ein halbes Jahr später schreibt sie dem Verfasser des gerühmten Werks:

"sagen muß ich Dir noch, daß ich ganz und gar erfüllt bin von Deinem Requiem, es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen Menschen in einer Weise wie wenig Anderes. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt ganz wunderbar, erschütternd und besänftigend. .. ich empfinde den ganzen reichen Schatz dieses Werkes bis ins Innerste und die Begeisterung, die aus jedem Stücke spricht, rührt mich tief." (Clara an Brahms 11. Januar 1867) Und schließlich ein weiterer Tagebucheintrag aus dem April 1868:

"Mich hat dieses Requiem ergriffen, wie noch nie eine Kirchenmusik." (Clara Tagebuch, April 1868)

Diese Beschreibungen Claras, in denen sie uns eine Vorstellung gibt über die Haltung, mit der sie Brahms' Requiem aufnahm, sind ausgestattet mit einem Vokabular, das der Kategorie der Wirkungsästhetik zugehört: "bewegt", "erfüllt", "ergreift", "erschütternd und besänftigend", "Begeisterung", "rührt mich". Ein Kunstwerk, das eine solche Wirkung ausübt, ist ein pathetisches Werk, ein solches Kunstwerk hat Pathos. - Wir sind bei unserem Gegenstand: Es soll im Folgenden um eine Einordnung der Texte des Deutschen Requiems gehen in der ästhetischen Kategorie des Pathos. Wir beziehen uns auf sie aus germanistischer, nicht aus musikologischer Sicht und untersuchen die sechzehn Bibelstellen, die Brahms zur begrifflichen Ausstattung seiner Requiem-Musik ausgewählt hat.

Pathos - eine Kategorie mit einer nahezu zweieinhalbtausendjährigen Begriffsgeschichte in europäischen Dimensionen. Der Pathos- als Teil des Ästhetikdiskurses ist eine Erscheinung griechischen Ursprungs, römischer Fortführung und schließlich mitteleuropäischer Festschreibung. Über einige wenige wichtige Stationen dieser Geschichte bis zum 19. Jahrhundert sollten wir uns zunächst verständigen, bevor wir anschließend die Texte des Deutschen Requiems auf unseren erarbeiteten Pathosbegriff abzubilden versuchen, indem wir sie als je spezifische Manifestationen von Begriffselementen ausweisen.


Aus: Orientierung - Zur Semantik einer gesellschaftspolitischen Leitvokabel (2003)

Vorbemerkung: Über die Anfänge



sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden

- meine Damen und Herren, diese Definition datiert aus dem Jahr 1786 und ist formuliert von Immanuel Kant. Die Abhandlung, aus der sie stammt, ist überschrieben: "Was heißt sich im Denken orientieren?" Drei Stationen der Bedeutungsentwicklung teilt uns Kant mit und er beginnt mit "der eigentlichen", d.h. der konkreten, nicht übertragenen Bedeutung. Diese korrespondiert mit dem etymologischen Ursprung: orientieren heißt ursprünglich ,etwas nach dem Aufgang der Sonne, nach den Himmelsrichtungen ausrichten' (Pfeifer) und ist abgeleitet aus Orient in der Bedeutung ,Himmelsrichtung, Gegend, in der die Sonne aufgeht, Osten, Morgenland' (aus lat. oriens ,Osten, Morgen, Länder in Richtung Sonnenaufgang (von Rom aus)', aus lat. oriri ,sich erheben, aufgehen, entstehen, geboren werden') (Pfeifer). 

Zurück zu Kant:

Diesen geographischen Begriff des Verfahrens sich zu orientieren, kann ich nun erweitern und darunter verstehen: sich in einem gegebenen Raum überhaupt orientieren. Im Finstern orientiere ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann.

Diese zweite Bedeutung, die Kant angibt, nennt er eine erweiterte: "sich in einem gegebenen Raum überhaupt orientieren". Erweitert ist diese Bedeutung deshalb, weil sie sozusagen nicht mehr auf den geographischen Kontext beschränkt ist, sondern übertragen auf eine Alltagssituation. Rainer Maria Rilke scheint diese Definition Kants literarisiert zu haben:

ich merkte, daß für meine .. angestrengten Augen das Dunkel nach und nach durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden, die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte mich über die Beine des Tisches; (Rilke, Malte Laurids Brigge, 1910, VI 795)

Die dritte Ebene schließlich ist die der abstraktesten Bedeutung, nochmals Kant:

Endlich kann ich diesen Begriff noch erweitern, da er denn im Vermögen bestände, sich nicht blos im Raume .. sondern überhaupt im Denken, d.i. logisch zu orientieren. (Kant 1,123ff/W. IV 349)

Orientieren wird also im abstraktesten Sinn nicht auf räumliche, sondern auf geistige Gegebenheiten bezogen - ein Beleg von Schiller:

Das Reich der Phantasie ist ihm eine fremde Zone, worinn er sich nicht wohl zu orientieren weiß (Schiller, Briefe 1787, I 398)

von Freiherr von Knigge:

[Wer lange in der großen Welt gelebt hat] wird die Fertigkeit erlangt haben, sich geschwind zu orientieren, schnell zu fassen, welche Sprache anwendbar ist (Knigge, Über den Umgang mit Menschen 1789, II 40)

von Gottfried Keller:

Ich habe heute im Rittersaal decken lassen .. Wir haben so lange nicht da gegessen und der Herr grüne Heinrich kann sich da am besten orientieren, bei wem er eigentlich ist, wir haben uns, die wir ihn nun schon mehr kennen, ihm eigentlich noch gar nicht vorgestellet (Keller, Grüner Heinrich, 1854/55, IV, S. 232).

In dieser Verwendung hat orientieren eine Bedeutung, die für uns von eminenter Wichtigkeit ist: Neue Zusammensetzungen wie leistungs-, verkaufs-, markt-, bedarfs-, erfolgs-, konsum-, gebrauchsorientiert - und allen bekannt: gebrauchsorientierte Gestaltung - solche Zusammensetzungen sind ebenso Schlüsselwörter unserer Gegenwart wie die Ableitung desorientiert (Flake, Zweite Jugend 1924, 48) und die Journalistenfloskel von gutorientierter Seite, die mit dem ,Berliner Tageblatt' vom 6. Juni 1931 belegt ist.

Festzuhalten bleibt: Vom Beginn seiner Einführung in die deutsche Sprache in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. an hat das Verb orientieren im Wesentlichen den Bedeutungsumfang, den es auch heute noch hat. Was Kant noch nicht vermerkt und sich wohl erst im späten 19. Jh. entwickelt, ist eine eigene Bedeutung des Partizips orientiert:

Denken Sie nur nicht, Herr Pastor, daß wir gar so mangelhaft orientiert sind (Polenz, Grabenhäger, 1893, II 235) -

hier haben wir einen frühen Beleg aus dem Jahr 1893 für orientiert im Sinn von ,unterrichtet, wissend'. Was ebenso im späten 18. Jh. noch fehlt, ist eine Besonderheit des Sprachgebrauchs der DDR: jemanden/etwas auf etwas orientieren im Sinn von ,auf etwas hinlenken, hinweisen': der Redner orientierte auf die Verbesserung der Qualität (WdG). 

Soviel von den Anfängen - von Etymologie und Bedeutungsgeschichte des Verbs. Wir beschäftigen uns im Folgenden vor allem mit dem Substantiv, und zwar derart, dass wir zunächst fragen: Was sagt das Wörterbuch? (1.) Damit verschaffen wir uns einen knappen Überblick über die Bedeutungsstruktur von Orientierung, die uns die Lexikographen vermitteln. Im Anschluss vergegenwärtigen wir uns anhand von Belegmaterial, das in den Korpora des IDS verfügbar ist, die systematische Mehrdeutigkeit von Orientierung und unterscheiden nach den Bedeutungen 2.1. ,Ausrichtung' mit den Bedeutungsaspekten 2.1.1. ,Position' und 2.1.2. ,Positionierung' und 2.2. ,Festigkeit' mit den Bedeutungsaspekten 2.2.1. ,Halt' und 2.2.2. ,Wegweisung'. Was es mit `zustands-` und `zielfokussiert` auf sich hat, werden wir dann sehen. Von dieser Ebene der lexikalischen Bedeutung aus fragen wir weiter und werfen andere Schlaglichter, indem wir nach dem Wort in Funktion fragen - nach den Dimensionen des Gebrauchs (3.). Und zwar konzipieren wir diese Dimensionen, indem wir uns gesellschaftliche Zusammenhänge (3.1. Politik, Kirche, Psychologie), textuelle Zusammenhänge (3.2. Diagnose - Therapie), und schließlich thematische Zusammenhänge (3.3. Verlust - Verheißung) von Orientierung klar machen. In einem Fazit (4.) werden wir die Befunde zusammenführen und bewerten. 


Aus: Rechtlich relevante Lexik im GWDS [Großes Wörterbuch der deutschen Sprache] (2003)


Die Darstellung rechtlich relevanten Wortschatzes in einem allgemeinsprachlichen Wörterbuch wie dem GWDS ist einerseits die lexikographische Behandlung des rechtssprachlichen Teilwortschatzes, insofern er als Teilsystem des Gesamtsystems der deutschen Sprache in andere Teilwortschätze und in die Allgemeinsprache diffundiert (vice versa). Sie ist anderseits die Abgrenzung eines eigenen in sich heterogenen Ausdrucks- und Bedeutungssystems und damit der Versuch, Expertenwissen lexikographisch derart aufzubereiten, dass es einem Laienbenutzer vermittelbar und verständlich wird.

Im ersten Abschnitt wird die lexikographische Bearbeitung des anders- bzw. nichtmarkierten Rechtswortschatzes kommentiert (2.1), im zweiten Abschnitt folgt eine kritische Betrachtung der, der Domäne des Rechtswesens durch Markierung zugeordneten Lexik unter dem Gesichtspunkt größerer bzw. geringerer Terminologiehaftigkeit. Dazu wird unterschieden zwischen dem allgemeinsprachlichen Wortschatz der Rechtssprache einerseits (2.2.1) und dem rechtssprachlichen Wortschatz der Allgemeinsprache anderseits (2.2.2).


Aus: "Übergesetzliches Recht". Reflexionen nationalsozialistischen Unrechts in der frühen Nachkriegszeit (2002)

Einführung

"[Er] tat nicht mehr als .. ein Sachbearbeiter tut, auf dessen Schreibtisch ein ihn nicht betreffendes Schriftstück gelangt" - er gibt dieses weiter. Aber "nicht in jeder Weitergabe eines Vorgangs [ist] eine Förderung [zu sehen]", ja "gerade aus der Weitergabe .. ergibt sich das Fehlen des Willens, diesen Vorgang zu fördern" (260/1950; VIII 9).

Meine Damen und Herren, diese Formulierungen aus einer Urteilsbegründung des Jahres 1950 bestätigen unser Bild von der Rechtsprechung der frühen Bundesrepublik, Rechts- und Zeithistoriker haben es fixiert: Es herrschte "ein[..] ziemlich breite[r] Konsens, die Vergangenheit ruhen zu lassen" und die allgemeine "Auffassung, die juristische Bewältigung der Vergangenheit sei durch die Prozesse der Besatzungszeit abgeschlossen .. Die Stimmung war eher für einen Schlußstrich unter die Vergangenheit". Die Geschichtsschreibung hat die "Unfähigkeit, in rechtlichen Formen Trauerarbeit zu leisten" und "eine Fülle von Abwehrmechanismen, die die Gestalt juristischer Konstruktionen annahmen", festgestellt ebenso wie die "Wiederherstellung des nationalsozialistischen Justizapparats und der Interpretationseliten der Diktatur". Das Scheitern der Entnazifizierung sei hier als Grund zu veranschlagen und der lustlosen Verfolgung von NS-Gewalttaten gäben die Amnestiegesetze von 1949 und 1954 legitimierenden Ausdruck der bundesdeutschen Haltung zu Nazi-Unrecht.

Die Lektüre von Urteilsbegründungen zu Verfahren, die nationalsozialistische Gewaltverbrechen zum Gegenstand haben, bestätigt dieses Bild - einerseits. Andererseits liefern aber Tat- und Täterprofile der ersten Nachkriegsjahre das Bild entschlossener Purifizierung:

"Vaterlandsliebe ist gewiss unerlässliche Voraussetzung für den Bestand des deutschen Volkes; sie besitzt .. in ihrem Sinne handelt .. der die wirklichen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht verkennt .. Massnahmen zu ergreifen bereit ist, die den Allzuvielen nicht gefallen mochten, die sich leider von dem verflossenen Regime nicht so entschlossen absentiert haben, wie es die ehrenvolle deutsche Vorvergangenheit erfordert hätte. .. Wahre Pflichterfüllung gegenüber Deutschland [hätte] darin bestanden .., den Kampf gegen die tatsächlichen Verderber des deutschen Vaterlandes, nämlich das Nazitum, zu führen, mindestens aber passiven Widerstand gegen dessen verbrecherische Handlungen zu leisten" (020/1947; I 416).

Dieser Text stammt aus einer Urteilsbegründung des Jahres 1947. Dem Angeklagten dieses Verfahrens wird die widerrechtliche Erschießung von Personen zur Last gelegt, die in den letzten Kriegstagen durch Hissen der weißen Fahne versuchten, dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Die dialektische Interpretation des Arguments ,Vaterlandsliebe' erlaubt die Bewertung der Tat - unter Beibehaltung der patriotischen Attitüde - als "schändliche Ermordung", "Terrorakt" "ohne jede Spur von Recht", indem das Opfer u.a. "auf grausame und unmenschliche Weise durch Erhängen auf öffentlichem Marktplatze und durch schändliche neunstündige öffentliche Ausstellung auf diesem Platze" entehrt wurde. Die charakterlichen Dispositionen eines solcherart schuldigen Täters sind die des menschlichen Abschaums: "primitive Persönlichkeit[..]", "eindeutiger nationalsozialistischer Aktivist", "typische[r] Vollstrecker Hitlerischer Wünsche", der zu den "unentwegten Vertretern der Parteiuntermenschen [gehörte], die als Vertreter des Staats- und Parteiregimes ohne Besinnen Verbrechen begingen und mit daran beteiligt waren, dass das Hitlertum nicht als politisches System, sondern als gigantisches Verbrechertum anzusehen ist". Sie seien verantwortlich für das "Gesamtergebnis, dass Deutschland den zweiten Weltkrieg auf seinen eigenen Trümmern beschliessen konnte und sein moralisches Ansehen in der ganzen Welt verloren" habe. Dieser Richter ist kompromisslos: "Mit durchaus persönlicher Untadelhaftigkeit hat es weiter nichts auf sich, wenn sie Leuten eignet, die sich so, wie K., dazu hergaben, einer so unzweifelhaft schlechten Sache zu dienen" (020/1947; I 414-417).

Richter sind empfindlich und argumentieren damit, wenn der Angeklagte "sich .. auf alle mögliche Weise von der Verantwortung .. zu entlasten versuchte", wenn er "sich nach der meist jetzt von nationalsozialistischen Angeklagten beliebten Methode mit Nichtwissen zu exkulpieren gesucht" hat (020/1947; I 414). So lassen sich Urteilsbegründungen auch als Psychogramm der deutschen Nachkriegsbefindlichkeit lesen, die Fundamentalethisierungen gleichkommen:

"[Die] heutige Volksmeinung [ist] schon deshalb ein schlechter und ungeeigneter Richter, weil das deutsche Volk .. zu einem grossen Teile Richter in eigener Sache [ist]. .. Wir Deutschen [ziehen] uns gar zu leicht auf Schicksal und Tragik zurück[..] .. [Es ist] leichter, sich als Opfer der Umstände hinzustellen und die Schuld ausser uns zu suchen, sich aus der Wirklichkeit in die Illusion zu flüchten .. [Es ist aber eine] gefährliche Illusion, wenn man glaubt, sich der Schuld, welche nicht nur den Verführer, sondern auch den Verführten trifft, durch das bequeme Mittel des Appels an das Mitleid entziehen zu können, und wer diese Illusion fördert, leistet dem deutschen Volk vor dem Forum der Menschheit einen schlechten Dienst." (022/1947; I 482) 

Richter geben ihrem Entsetzen Ausdruck, ihre Affektkontrolle ist außer Funktion, wenn sie etwa die "Einmaligkeit" und "Ungeheuerlichkeit" (017/1947; I 314) des nationalsozialistischen ,Euthanasie'-Programms feststellen, eine Erschiessung kurz vor Kriegsende als "Bestialität" (020/1947; I 417) erkennen, wenn sie "stärkste Zweifel an der Möglichkeit einer so bestialischen Handlungsweise zu überwinden" hatten (270/1951; VIII 266). Auch die Profilierung der Opfer - vor allem der prominenten - ist Anlass zum Ausdruck tiefer Abscheu: Der ehemalige leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler war "ein Mensch .., dessen vorzeitiger Tod für unser Bemühen um eine vom Sittengesetz getragene Ordnung ein schmerzlicher Verlust bleiben wird" (032/1947; I 713). Die noch 1945 umgebrachten Canaris und Bonhoeffer waren "verantwortungsbewusste Persönlichkeiten". Sie befanden sich in einem "ernste[n] Gewissenswiderstreit .. vor die Wahl gestellt zwischen .. Gehorsamspflicht und Unterworfensein unter die damals geltenden strengen Gesetze und zum andern den edler Gesinnung entsprungenen und höheren Zielen dienenden, den Mut zur Selbstaufopferung erheischenden Bestrebungen, die Gewaltherrschaft Hitlers zu beseitigen" (420/1952; XVIII 352).

Schlussstrich-Atmosphäre? Abwehr? Verweigerung? Die Tat der Angeklagten Helene Schwärzel, die Karl Goerdeler noch im August 1944 ans Messer lieferte, ist motiviert "aus einem auf hysterischer Grundlage beruhenden Geltungsbedürfnis und aus Rechthaberei", begangen von einer "wenig ausgereifte[n] hysterische[n] Frau [mit] unausgeglichene[m] Gefühlsleben .. geringe[r] Begabung, Mangel an Zielstrebigkeit .. Hang zum Starrsinn .. Eitelkeit", kurz einer "Persönlichkeit kleinen geistigen Formats" (032/1947; I 713). Die "Kommandeuse" des KZ Buchenwald Ilse Koch beging ihre Straftaten, weil sie "ihre persönliche Machtstellung .. zeigen wollte", sie fand "an der Zufügung von Unrecht, Leid und Schmerzen persönlich eine innere Befriedigung", sie ist "triebhaft", gemütskalt" und "geltungssüchtig", "Hochmut" und "Egoismus" (262/1950; VIII 127) zeichneten sie aus. Der Täter in einem Treblinka-Prozess, der sich u.a. zu verantworten hat für die "in ihrer Rohheit kaum zu überbietende Tötung der kleinen Kinder", war "einer der brutalsten Angehörigen des Lagerpersonals" (270/1950; VIII 270).

Widersprüchliche Einstellungen zum Nationalsozialismus und seinem Unrecht, zu den Tätern und ihren Taten bestimmen die Signatur der ersten zehn Nachkriegsjahre. Zu begründen ist diese Aporie grundsätzlich mit unterschiedlichen Einstellungen der einzelnen Richter zu den Unrechtstaten der Nazizeit. Gleichzeitig sind aber auch gesellschaftspolitische Abhängigkeiten zu konzidieren und obwohl Urteile mit purifizierenden Absichten für das Jahr 1955 belegt sind ebenso wie solche mit exkulpierenden für das Jahr 1946, lässt sich von einem tendenziellen Einstellungsbruch seit etwa 1948/49 sprechen: Mit der Staatsgründung ist der Perspektivenschwenk von der zu verabscheuenden Tat zum zu entlastenden Täter abgeschlossen. Während Urteile nach der Staatsgründung tendenziell auf Exkulpierung abzielen - man stellt Unschuld fest -, sind die der frühesten Nachkriegszeit tendenziell von ehrlichem Entsetzen, dem Drang nach Sühne und Wiedergutmachung bestimmt - man stellt Schuld fest.

Eine linguistische Herausforderung ist die Analyse solcher Urteile allererst, weil sie zeitgeschichtliche Dokumente und damit auch sprachgeschichtliche sind, indem mit ihren Ausdrucksformen Zeitgeschichte sprachlich offenbar und damit linguistisch beschreibbar ist. Von besonderer zeit- und damit sprachgeschichtlicher Bedeutung ist die Widersprüchlichkeit der Urteilsbegründungen. Vereinfacht gesagt ist zu fragen: Welche sprachlichen Muster werden jeweils realisiert, wenn der eine Richter im Rahmen einer konzisen Argumentation dasselbe Argument abweist, das ein anderer Richter - ebenso konzis argumentierend - akzeptiert? Zur Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden die Untersuchung von Urteilsbegründungen funktional und semantisch mit einem Ensemble erstens argumentationsanalytischer, zweitens konzeptanalytischer Instrumente ausgestattet werden.


Aus: Sigmund Freuds Sprachdenken. Ein Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte (2002)

1. Einführung



"Gute Nacht, mein Liebchen, Du darfst Dich ein bißchen ärgern, aber behalt's nicht für Dich, schimpf lieber ein bißchen auf Deinen getreuen Sigmund."

Freud schreibt dies seiner Braut am 16. Januar 1884. Schimpfen, aussprechen, was einen ärgert - in diesem Briefschluss offenbart sich eine Grundüberzeugung Freuds, die seine epochale Lehre trägt und die eine sprachliche ist: sich durch Sprechen, durch Aussprechen befreien.

Freud ist ein Sprachbegeisterter. Er feiert "die Sprache .. in ihrer unübertrefflichen Weisheit" und als "geniale geistige Schöpfung" der Massenseele - das sind sprachreflexive Formulierungen eines Wissenschaftlers, der zeitlebens einen gut Teil seiner Kraft darauf verwendet nachzuweisen, dass die Psychoanalyse eine naturwissenschaftliche, keinesfalls eine philosophische Disziplin sei, eines Wissenschaftlers, der im Sinn der Neoromantik an den Zauber des Wortes glaubt. Der Verfasser von ,Massenpsychologie und Ich-Analyse' hat Le Bon gelesen und er stellt die "wahrhaft magische[..] Macht von Worten, die in der Massenseele die furchtbarsten Stürme hervorrufen und sie auch besänftigen können", er stellt diese Macht der Worte in einen gedanklichen Zusammenhang mit den "Tabu der Namen bei den Primitiven", mit den "magischen Kräfte[n], die sich ihnen an Namen und Worte knüpfen". Und: Auch die Tatsache, dass Freuds Terminologie zu großen Teilen der Allgemeinsprache entstammt, gehört in diesen Kontext. Er lässt sich "ohne Bedenken vom Sprachgebrauch, oder wie man auch sagt: Sprachgefühl, leiten im Vertrauen darauf, daß wir so inneren Einsichten gerecht werden, die sich dem Ausdruck in abstrakten Worten noch widersetzen".

Sigmund Freud und die Sprache - dieser vielschichtige Komplex ist in unterschiedlichen Hinsichten Gegenstand linguistischer Beschäftigung. Über die Funktion von Sprache in der psychoanalytischen Theorie und Praxis wird seit den siebziger Jahren nachgedacht. Das sprachwissenschaftliche Interesse an diesen "vielschichtigen Prozessen .., die mit Sprache in der therapeutischen Situation involviert sind", ist hier längst erwiesen, spätestens seit der Institutionalisierung einer Teildisziplin, die als Psycholinguistik zu dem Kanon linguistischer Erkenntnisziele gehört. Das Werk Sigmund Freuds wurde in dem Sinn in die Sprachgeschichte eingeordnet, als der Einfluss der psychoanalytischen Terminologie auf die Allgemeinsprache von Peter von Polenz sprachhistorisch verbucht wurde. Die Herkunft von Teilen dieser Terminologie aus dem naturwissenschaftlichen Inventar von Chemie, Biologie und Physik wurde von Uwe Pörksen festgestellt, Freuds Wissenschaftssprache - als "Verbindung eines quasinaturwissenschaftlichen Sprachtyps mit dem literarischen" - wurde, wiederum von Pörksen, erkannt. Die literarische Sprache Freuds ist bewiesen, denn seine Schriften enthielten "klare Anzeichen dafür, daß sich ihr Verfasser .. als Herr über die Sprache fühlt" - Walter Muschg stellt dies 1930 - also noch zu Lebzeiten Freuds - fest. In diesem Sinn wurde das Werk akribisch analysiert von Walter Schönau - "die Bewunderung für die literarische Leistung Freuds" ist des Verfassers Motiv und seiner Arbeit Erkenntnisziel: den Topos von der stilistischen Meisterschaft Freuds wissenschaftlich "mit dem Begriffssystem der literarischen Rhetorik" zu fundieren.

Folgendes ist gedacht als ein Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte - ein Untersuchungsaspekt, welcher heute zunehmend Aufmerksamkeit erfährt, welcher aber für das späte 19. Jahrhundert längst etabliertes Erkenntnisinteresse der Sprachgeschichte ist. Bereits Hugo Moser hat gesteigertes Sprachbewusstsein als Epochenmerkmal der Jahrhundertwende ausgemacht. Und Sprachskepsis, Sprachkrise, Sprachverzweiflung, Sprachkritik und puristische Sprachpflege, Schiller-Imitation und der Sprachstil des Journalismus sind von der Sprachgeschichtsschreibung festgeschriebene Namen und Erscheinungen der Sprachbefindlichkeit um 1900. Insgesamt gilt die "bürgerliche Sprache" des 19. Jahrhunderts in der Formulierung Peter von Polenz' als "ein spezifisch (bildungs)bürgerliches sprachreflexives Verhalten". Auf dieser Folie sei das Sprachdenken Sigmund Freuds überprüft und eingeordnet. Dazu will ich zunächst wenige ausgewählte Elemente der psychoanalytischen Lehre Sigmund Freuds als Manifestationen seines Sprachdenkens rekonstruieren.


Aus: Bertolt Brecht, der Nationalsozialismus und die Sprachkritik (2001)


In seiner berühmten, 1938 im Exil vefassten Schrift "Über die Wiederherstellung der Wahrheit" führt Bertolt Brecht eine analytische Strategie zur Entlarvung der lügnerischen Nazisprache vor. Am Beispiel von Auszügen einer Rede Görings und einer "Weihnachtsbotschaft" des "Stellvertreters des Führers" Hess, beide aus dem Jahr 1934, demonstriert Brecht diese Strategie exemplarisch in der Form der Synopse. Seine entlarvende Sprachanalyse besteht in der Ersetzung (für "kommunistische Gefahr" "unter der Herrschaft des arbeitenden Teils der Bevölkerung die Ausnutzung des Eigentums zum Zwecke der Ausbeutung abgeschafft werden könnte" (XX 192); für "bolschewistisches Chaos" "bolschewistische Gesellschaftsordnung, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen unmöglich ist" (XX 196); statt "mir ist viel zu weihnachtlich zumute" "ich habe viel zu gut gegessen" (XX 197)); in der Ergänzung ("die Methoden des Nationalsozialismus, die, [da sie lügnerisch sind]" (XX 192); "die ihnen einst als Feinde gezeigt wurden [, da sie Feinde sind]" (XX 196)); in der Umkehrung (statt "keinen Reichstagsbrand" "einen Reichstagsbrand" (XX 194); statt "neuorganisierten Arbeitskraft" "ihrer Organisation beraubten Arbeitskraft" (XX 198)). Ersetzung, Ergänzung und Uminterpretation sind sprachkritische Strategien, denen gleichsam eine Semantiktheorie zugrundeliegt, die Brecht unter dem Namen 'Verfremdung' etabliert. Im Sinne Dieter Cherubims ist die Brechtsche Verfremdungstechnik eine Regelabweichung mit positiver Funktion, "d.h. durch bestimmte Absichten oder Zwecke (z.B. als Regelbestätigung, Toleranzprobe, Vertraulichkeitsanzeige, Innovationsversuch) motiviert .. und daher eine sinnvolle Alternative zur Regelbefolgung". Dass Verfremdung nicht nur ein literatursprachliches Phänomen ist, dass für Brechts literarisches Werk nicht gilt, was sonst als Wesen der Kunst erachtet wird, nämlich dass sie "nicht der unmittelbaren Bewältigung einer Praxis dient", erweist sich besonders deutlich da, wo sich Brecht sprachkritisch äußert - und zwar sowohl literarisch als auch theoretisch. Brechts sprachkritische Strategien sind nicht nur "literatursemantische Neuinterpretationen", sondern durchaus auf die alltagspraktische Bewältigung in diesem Fall des Nationalsozialismus bezogen - Unterhalten und Belehren ist bekanntlich die Aufgabe, die sich Brecht als Dichter gestellt hat.

Das vielleicht berühmteste Beispiel Brechts für diese Strategie einer "Besetzung von Begriffen" - "Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik" (XVIII 231) - macht deutlich, worum es Brecht bei einer solchen Analyse geht, nämlich "die Art der Täuschung und des Irrens zu gewinnen" (XX 191), m.a.W. denkend Wahrheit zu erkennen: 

"In Zeiten, wo die Täuschung gefordert und die Irrtümer gefördert werden, bemüht sich der Denkende, alles, was er liest und hört, richtigzustellen. Was er liest und hört, spricht er leise mit, und im Sprechen stellt er es richtig. Von Satz zu Satz ersetzt er die unwahren Aussagen durch wahre. .. setzt er richtige Sätze gegen unrichtige, ohne sich um den Zusammenhang zu kümmern. Er zerstört den Zusammenhang der unrichtigen Sätze, wissend, daß der Zusammenhang Sätzen oft einen Anschein von Richtigkeit verleiht." (XX 191) 

"Brechts sprachkritischer Ansatz hätte zum Vorbild für wirksame politische Sprachkritik gegen den Nationalsozialismus werden können, wenn Brecht nicht hätte durch Zensur verstummen und aus dem faschistisch gewordenen Deutschland emigrieren müssen" kommentiert Peter von Polenz mit berechtigtem Bedauern Bertolt Brechts seinerzeit ungehört gebliebene sprachkritische Aufklärungsversuche. Den linguistisch-methodischen Wert von Brechts Sprachkritik sieht v. Polenz in der "Vorwegnahme der Methoden text- und argumentationsanalytischer Sprachkritik der post-1968er-Zeit" (ebd.). Es sind die Methoden der Sprachpragmatik, wenn Brecht sich "nicht mit der Kritik von Einzelwörtern [begnügte], sondern .. mit Sätzen oder ganzen Äußerungen als den kleinsten Sinn- und Handlungseinheiten der Sprache [arbeitete]" (ebd. 314).

Bertolt Brecht zählt zu den ausgewiesenen Kritikern der nationalsozialistischen Sprache und gehört damit in die Reihe von Klemperer und Sternberger/ Storz/ Süskind. Was ihn von diesen unterscheidet, ist ein Verständnis von Sprachkritik, die sich bei diesen als Moral-, bei Brecht hingegen als Systemkritik ausprägt. Und: Eine Vorstellung von schuldiger Sprache, wie sie sich vor allem im 'Wörterbuch des Unmenschen' manifestiert, muss dem Marxisten, der auf den handelnden Menschen setzt, gänzlich fremd sein. Brecht hält die Sprecher für schuldig und ist damit eigentlich seiner Zeit voraus, indem er eine Position einnimmt, die von der Sprachwissenschaft erst Mitte der 60er Jahre eingeklagt wurde.


Der Faschismus-Diskurs 1967/68. Semantik und Funktion. In: Kämper, Heidrun/Scharloth, Joachim/Wengeler, Martin (Hrsg.): 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz . S. 259-285 - Berlin/New York: de Gruyter, 2012. (Sprache und Wissen 6)

… Mit diesem Stereotyp schreibt die studentische Linke dem bundesrepublikanischen Staat und der Nachkriegsgesellschaft die damit bezeichnete Eigenschaft ‚brutal, terroristisch, gewalttätig' zu, ebenso wie die Protestformen der studentischen Linken durch eben diesen Staat und diese Gesellschaft die Zuschreibung faschistisch erfahren und man damit meint ‚rücksichtslos, aggressiv, gewalttätig'. In dieser Funktion benutzt schließlich auch die intellektuelle Linke das Stereotyp. Vom Vorwurf faschistisch verschont bleiben eigentlich nur die Vertreter der intellektuellen Linken selbst. Der folgende Beitrag fragt danach, was die Kategorie Faschismus eigentlich, insbesondere für die studentische Linke, so überaus geeignet macht, um als verbale Waffe im politischen Kampf eingesetzt zu werden? Anders gefragt: Welche sprachliche Strategie wendet die studentische Linke an, um diese Waffe so überaus wirkungsvoll benutzen zu können? …



1945 - Der Schulddiskurs als Generationenphänomen. In: Neuland, Eva (Hg.): Sprache der Generationen. Mannheim: Dudenverl., S. 145-166. (Thema Deutsch; 12)

… Was uns im Folgenden interessieren wird, sind nicht die sprachlichen Phänomene, die in der Regel als generationenspezifische Wortschätze, als alterstypische Kommunikationspraktiken oder als altersbedingte Sprachdefizite linguistisch dargestellt werden. Vielmehr geht es um die Konstituierung eines spezifischen, als Generationenphänomen zu beschreibenden Diskurses der frühen Nachkriegszeit. Wir fragen: Mit welchen Kategorien lässt sich die Generationsspezifik des Diskurses der frühen Nachkriegszeit 1945ff darstellen? Welche sprachlichen Repräsentationen des Nachkriegsdiskurses lassen sich als generationelles Phänomen dieses Diskurses interpretieren? Damit ist die Untersuchungsperspektive der kulturwissenschaftlichen, diskursanalytisch orientierten Linguistik eingenommen. Denn: Wir fragen 1. nach sprachlichen Repräsentationen eines einen gesellschaftlichen Diskurs beherrschenden und in auffallender Weise durch eine bestimmte Altersgruppierung etablierten Themas; 2. nach Repräsentationen von Bewusstsein, in unserem Fall von Alters- bzw. Generationenbewusstsein als Ausdruck des kollektiven Selbstverständnisses der Akteure; 3. nach der kollektiven Konzeption derjenigen generationellen Gruppierung, deren sprachliche Repräsentation im Kontext der Entfaltung des Diskursthemas eine spezifische argumentative Funktion erhält. …



Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche. Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Sprachgeschichte. In: Bock, Bettina/Fix, Ulla/Pappert, Steffen (Hgg.): Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche. Berlin: Frank und Timme, S. 31-50

… Die Frage nach sprachlichen Umbrüchen im Kontext von politischen Wechseln ist eine Frage nach Gebrauchsveränderungen, also nicht eine Frage nach Systemwandel. In welcher Hinsicht und auf welchen sprachlichen Ebenen, so muss die Frage lauten, manifestieren sich sprachliche Gebrauchsveränderungen? Wie und wo lassen sich sprachliche Umbrüche erfassen? Wie und wo manifestieren sie sich derart, dass sie mit linguistischem Werkzeug beschreibbar sind? Die folgende Darlegung geht aus der Überzeugung hervor, dass die linguistische Diskursanalyse diejenige Perspektive ist, die sprachliche Umbrüche darstellbar macht. Denn zur Konzeption eines operationalisierbaren Analysemodells können wir mindestens vier Ebenen annehmen: Sprachgebrauch hat eine thematische, eine sprecherbezogene, eine textuelle und eine lexikalische Dimension. Es sind dies sprachliche Ebenen, die umbruchgeschichtliche Relevanz haben. Es sind dies gleichzeitig diejenigen Ebenen, die wir unter die Kategorie ‚Diskurs' fassen können. Wer immer gesellschaftlichen Phänomenen auf die Spur kommen will, untersucht Diskurse als die gesellschaftliche Wirklichkeit konstituierende kommunikative Prozesse und Praktiken. …



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Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz    Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er JahreKlicken Sie auf die Buchcover für Leseproben
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