Aus: Bertolt Brecht, der
Nationalsozialismus und die Sprachkritik
(2001
)
In seiner berühmten, 1938 im Exil vefassten Schrift "Über die
Wiederherstellung der Wahrheit" führt Bertolt Brecht eine
analytische Strategie zur Entlarvung der lügnerischen Nazisprache
vor. Am Beispiel von Auszügen einer Rede Görings und einer
"Weihnachtsbotschaft" des "Stellvertreters des Führers" Hess, beide
aus dem Jahr 1934, demonstriert Brecht diese Strategie exemplarisch
in der Form der Synopse. Seine entlarvende Sprachanalyse besteht in
der Ersetzung (für "kommunistische Gefahr" "unter der Herrschaft des
arbeitenden Teils der Bevölkerung die Ausnutzung des Eigentums zum
Zwecke der Ausbeutung abgeschafft werden könnte" (XX 192); für
"bolschewistisches Chaos" "bolschewistische Gesellschaftsordnung, in
der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen unmöglich ist"
(XX 196); statt "mir ist viel zu weihnachtlich zumute" "ich habe
viel zu gut gegessen" (XX 197)); in der Ergänzung ("die Methoden des
Nationalsozialismus, die, [da sie lügnerisch sind]" (XX 192); "die
ihnen einst als Feinde gezeigt wurden [, da sie Feinde sind]" (XX
196)); in der Umkehrung (statt "keinen Reichstagsbrand" "einen
Reichstagsbrand" (XX 194); statt "neuorganisierten Arbeitskraft"
"ihrer Organisation beraubten Arbeitskraft" (XX 198)). Ersetzung,
Ergänzung und Uminterpretation sind sprachkritische Strategien,
denen gleichsam eine Semantiktheorie zugrundeliegt, die Brecht unter
dem Namen 'Verfremdung' etabliert. Im Sinne Dieter Cherubims ist die
Brechtsche Verfremdungstechnik eine Regelabweichung mit positiver
Funktion, "d.h. durch bestimmte Absichten oder Zwecke (z.B. als
Regelbestätigung, Toleranzprobe, Vertraulichkeitsanzeige,
Innovationsversuch) motiviert .. und daher eine sinnvolle
Alternative zur Regelbefolgung". Dass Verfremdung nicht nur ein
literatursprachliches Phänomen ist, dass für Brechts literarisches
Werk nicht gilt, was sonst als Wesen der Kunst erachtet wird,
nämlich dass sie "nicht der unmittelbaren Bewältigung einer Praxis
dient", erweist sich besonders deutlich da, wo sich Brecht
sprachkritisch äußert - und zwar sowohl literarisch als auch
theoretisch. Brechts sprachkritische Strategien sind nicht nur
"literatursemantische Neuinterpretationen", sondern durchaus auf die
alltagspraktische Bewältigung in diesem Fall des Nationalsozialismus
bezogen - Unterhalten und Belehren ist bekanntlich die Aufgabe, die
sich Brecht als Dichter gestellt hat.
Das vielleicht berühmteste Beispiel Brechts für diese Strategie
einer "Besetzung von Begriffen" - "Wer in unserer Zeit statt Volk
Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele
Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik" (XVIII 231) -
macht deutlich, worum es Brecht bei einer solchen Analyse geht,
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