Aus: Sigmund Freuds Sprachdenken. Ein
Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte
(2002)
1. Einführung
"Gute Nacht, mein Liebchen, Du darfst Dich ein bißchen ärgern, aber
behalt's nicht für Dich, schimpf lieber ein bißchen auf Deinen
getreuen Sigmund."
Freud schreibt dies seiner Braut am 16. Januar 1884. Schimpfen,
aussprechen, was einen ärgert - in diesem Briefschluss offenbart
sich eine Grundüberzeugung Freuds, die seine epochale Lehre trägt
und die eine sprachliche ist: sich durch Sprechen, durch Aussprechen
befreien.
Freud ist ein Sprachbegeisterter. Er feiert "die Sprache .. in ihrer
unübertrefflichen Weisheit" und als "geniale geistige Schöpfung" der
Massenseele - das sind sprachreflexive Formulierungen eines
Wissenschaftlers, der zeitlebens einen gut Teil seiner Kraft darauf
verwendet nachzuweisen, dass die Psychoanalyse eine
naturwissenschaftliche, keinesfalls eine philosophische Disziplin
sei, eines Wissenschaftlers, der im Sinn der Neoromantik an den
Zauber des Wortes glaubt. Der Verfasser von ,Massenpsychologie und
Ich-Analyse' hat Le Bon gelesen und er stellt die "wahrhaft
magische[..] Macht von Worten, die in der Massenseele die
furchtbarsten Stürme hervorrufen und sie auch besänftigen können",
er stellt diese Macht der Worte in einen gedanklichen Zusammenhang
mit den "Tabu der Namen bei den Primitiven", mit den "magischen
Kräfte[n], die sich ihnen an Namen und Worte knüpfen". Und: Auch die
Tatsache, dass Freuds Terminologie zu großen Teilen der
Allgemeinsprache entstammt, gehört in diesen Kontext. Er lässt sich
"ohne Bedenken vom Sprachgebrauch, oder wie man auch sagt:
Sprachgefühl, leiten im Vertrauen darauf, daß wir so inneren
Einsichten gerecht werden, die sich dem Ausdruck in abstrakten
Worten noch widersetzen".
Sigmund Freud und die Sprache - dieser vielschichtige Komplex ist in
unterschiedlichen Hinsichten Gegenstand linguistischer
Beschäftigung. Über die Funktion von Sprache in der
psychoanalytischen Theorie und Praxis wird seit den siebziger Jahren
nachgedacht. Das sprachwissenschaftliche Interesse an diesen
"vielschichtigen Prozessen .., die mit Sprache in der
therapeutischen Situation involviert sind", ist hier längst
erwiesen, spätestens seit der Institutionalisierung einer
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