Aus: Orientierung - Zur Semantik einer
gesellschaftspolitischen Leitvokabel
(2003)
Vorbemerkung: Über die Anfänge
sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus
einer gegebenen Weltgegend die übrigen, namentlich den Aufgang zu
finden
- meine Damen und Herren, diese Definition datiert aus dem Jahr 1786
und ist formuliert von Immanuel Kant. Die Abhandlung, aus der sie
stammt, ist überschrieben: "Was heißt sich im Denken orientieren?"
Drei Stationen der Bedeutungsentwicklung teilt uns Kant mit und er
beginnt mit "der eigentlichen", d.h. der konkreten, nicht
übertragenen Bedeutung. Diese korrespondiert mit dem etymologischen
Ursprung: orientieren heißt ursprünglich ,etwas nach dem Aufgang der
Sonne, nach den Himmelsrichtungen ausrichten' (Pfeifer) und ist
abgeleitet aus Orient in der Bedeutung ,Himmelsrichtung, Gegend, in
der die Sonne aufgeht, Osten, Morgenland' (aus lat. oriens ,Osten,
Morgen, Länder in Richtung Sonnenaufgang (von Rom aus)', aus lat.
oriri ,sich erheben, aufgehen, entstehen, geboren werden')
(Pfeifer).
Zurück zu Kant:
Diesen geographischen Begriff des Verfahrens sich zu orientieren,
kann ich nun erweitern und darunter verstehen: sich in einem
gegebenen Raum überhaupt orientieren. Im Finstern orientiere ich
mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen
Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann.
Diese zweite Bedeutung, die Kant angibt, nennt er eine erweiterte:
"sich in einem gegebenen Raum überhaupt orientieren". Erweitert ist
diese Bedeutung deshalb, weil sie sozusagen nicht mehr auf den
geographischen Kontext beschränkt ist, sondern übertragen auf eine
Alltagssituation. Rainer Maria Rilke scheint diese Definition Kants
literarisiert zu haben:
ich merkte, daß für meine .. angestrengten Augen das Dunkel nach und
nach durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand
unterscheiden, die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte
mich über die Beine des Tisches; (Rilke, Malte Laurids Brigge, 1910,
VI 795)
Die dritte Ebene schließlich ist die der abstraktesten Bedeutung,
nochmals Kant:
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