Gesamtkunstwerks unbeachtet lassen könnten. Die Kohärenz der
ausgewählten Bibelstellen bezüglich der Vermittlung universaler
Erfahrungen von Tod, Trauer, Trost und menschlicher Beziehung zu
Gott ist zu offensichtlich, als dass sie aus sprachlicher Hinsicht
ignoriert werden dürfte. Vor allem aber: Die Texte als bloße
Funktionsträger im Dienst der Musik hieße, ihnen abzusprechen, was
sie zweifelsohne haben: einen eminent ästhetischen Wert, der sich
nicht zuletzt in dem gefühlvoll-pathetischen Gehalt dieser Texte
manifestiert.
Pathetischer Gehalt: "Das Requiem hat mich aber doch freudiger
bewegt [als das Streichquartett c-Moll], es ist voll zarter und
wieder kühner Gedanken. Wie es klingen wird, das kann ich mir nicht
so klar vorstellen, aber in mir klingt es herrlich." (Tagebuch
Clara, August 1866) So, meine Damen und Herren, lautet ein Eintrag
in Clara Schumann-Wiecks Tagebuch im August 1866. Ein halbes Jahr
später schreibt sie dem Verfasser des gerühmten Werks:
"sagen muß ich Dir noch, daß ich ganz und gar erfüllt bin von Deinem
Requiem, es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen
Menschen in einer Weise wie wenig Anderes. Der tiefe Ernst, vereint
mit allem Zauber der Poesie, wirkt ganz wunderbar, erschütternd und
besänftigend. .. ich empfinde den ganzen reichen Schatz dieses
Werkes bis ins Innerste und die Begeisterung, die aus jedem Stücke
spricht, rührt mich tief." (Clara an Brahms 11. Januar 1867) Und
schließlich ein weiterer Tagebucheintrag aus dem April 1868:
"Mich hat dieses Requiem ergriffen, wie noch nie eine Kirchenmusik."
(Clara Tagebuch, April 1868)
Diese Beschreibungen Claras, in denen sie uns eine Vorstellung gibt
über die Haltung, mit der sie Brahms' Requiem aufnahm, sind
ausgestattet mit einem Vokabular, das der Kategorie der
Wirkungsästhetik zugehört: "bewegt", "erfüllt", "ergreift",
"erschütternd und besänftigend", "Begeisterung", "rührt mich". Ein
Kunstwerk, das eine solche Wirkung ausübt, ist ein pathetisches
Werk, ein solches Kunstwerk hat Pathos. - Wir sind bei unserem
Gegenstand: Es soll im Folgenden um eine Einordnung der Texte des
Deutschen Requiems gehen in der ästhetischen Kategorie des Pathos.
Wir beziehen uns auf sie aus germanistischer, nicht aus
musikologischer Sicht und untersuchen die sechzehn Bibelstellen, die
Brahms zur begrifflichen Ausstattung seiner Requiem-Musik ausgewählt
hat.
Pathos - eine Kategorie mit einer nahezu zweieinhalbtausendjährigen
Begriffsgeschichte in europäischen Dimensionen. Der Pathos- als Teil
des Ästhetikdiskurses ist eine Erscheinung griechischen Ursprungs,
römischer Fortführung und schließlich mitteleuropäischer
Festschreibung. Über einige wenige wichtige Stationen dieser
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