obwohl Urteile mit purifizierenden Absichten für das Jahr 1955
belegt sind ebenso wie solche mit exkulpierenden für das Jahr 1946,
lässt sich von einem tendenziellen Einstellungsbruch seit etwa
1948/49 sprechen: Mit der Staatsgründung ist der Perspektivenschwenk
von der zu verabscheuenden Tat zum zu entlastenden Täter
abgeschlossen. Während Urteile nach der Staatsgründung tendenziell
auf Exkulpierung abzielen - man stellt Unschuld fest -, sind die der
frühesten Nachkriegszeit tendenziell von ehrlichem Entsetzen, dem
Drang nach Sühne und Wiedergutmachung bestimmt - man stellt Schuld
fest.
Eine linguistische Herausforderung ist die Analyse solcher Urteile
allererst, weil sie zeitgeschichtliche Dokumente und damit auch
sprachgeschichtliche sind, indem mit ihren Ausdrucksformen
Zeitgeschichte sprachlich offenbar und damit linguistisch
beschreibbar ist. Von besonderer zeit- und damit
sprachgeschichtlicher Bedeutung ist die Widersprüchlichkeit der
Urteilsbegründungen. Vereinfacht gesagt ist zu fragen: Welche
sprachlichen Muster werden jeweils realisiert, wenn der eine Richter
im Rahmen einer konzisen Argumentation dasselbe Argument abweist,
das ein anderer Richter - ebenso konzis argumentierend - akzeptiert?
Zur Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden die Untersuchung von
Urteilsbegründungen funktional und semantisch mit einem Ensemble
erstens argumentationsanalytischer, zweitens konzeptanalytischer
Instrumente ausgestattet werden.
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