Aus: Trostwerk für die Trauernden. Der
Text des "Deutschen Requiems" aus
literarischer Sicht (2004)
Vorbemerkung
"Hinwieder habe ich nun wohl manches genommen, weil ich Musiker bin,
weil ich es gebrauchte."
Meine Damen und Herren, dieser oft zitierte Satz Brahms' aus einem
Brief an den Dirigenten Reinthaler bezieht sich auf die Textauswahl
des Deutschen Requiems. Sie wurde von Brahms selbst vorgenommen und
war 1861 bis auf den Text des erst 1868 nachträglich eingefügten
fünften Satzes abgeschlossen und auf der Rückseite der Urschrift
seiner Magelonen-Romanzen op. 33 notiert. Wenn Brahms in seinem eben
zitierten Brief von diesen Texten und ihrer Funktion sagt, er habe
sie als Musiker ausgewählt, dann suggeriert er damit, die Texte
hätten keine inhaltliche, auf der Aussage der Bibelstellen beruhende
Relevanz, sondern seien von ihm aus musikalischen Gründen ausgewählt
worden. Wir haben kein Recht, an einer solchen Äußerung aus der
Selbstperspektive zu zweifeln. So folgt auch die Brahms-Forschung
bzgl. ,Deutsches Requiem' der Brahms'schen Selbstaussage, wenn sie
etwa feststellt: "Bibel-Texte werden bei Brahms primär funktional
für seine musikalischen Absichten benutzt, nicht um ihrer eigenen
Aussage willen", oder wenn ein "Vorrang des Musikalischen gegenüber
dem Textlichen" ausgemacht wird. Man beglaubigt diese Vorstellung
u.a. mit dem im sechsten Satz des Deutschen Requiems zitierten
ersten Korintherbrief: "Denn es wird die Posaune erschallen und die
Toten werden auferstehen unverweslich." Dies sei nicht die
Verkündung der Auferstehung - an die Brahms als liberaler
norddeutscher Protestant nicht glauben konnte -, sondern musikalisch
motiviertes Symbol: die Posaunen.
Wie immer: Wenn wir auch kein Recht haben, Brahms' eigene Äußerungen
zu seinem Werk gleichsam zu korrigieren, haben wir aber wohl das
Recht, die Textauswahl - wie die Musik - als Ergebnis eines
subjektiven schöpferischen Aktes zu betrachten und als solchen zu
interpretieren. Wenn wir auch keine Ambitionen haben, eine
Hierarchie der Musik-Text-Relationen zugunsten der Texte plausibel
zu machen, haben wir doch Anlass, ihren poetischen und begrifflichen
Eigenwert anzunehmen. Die Texte des Deutschen Requiems sind zu
sprechend, zu sehr Repräsentationen liberaler protestantischer
Gläubigkeit des 19. Jahrhunderts mit ihren poetischen, spirituellen
Botschaften menschlichen Denkens, menschlicher Ängste und
menschlichen Trostes, als dass wir sie als Element dieses
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