Endlich kann ich diesen Begriff noch erweitern, da er denn im
Vermögen bestände, sich nicht blos im Raume .. sondern überhaupt im
Denken, d.i. logisch zu orientieren. (Kant 1,123ff/W. IV 349)
Orientieren wird also im abstraktesten Sinn nicht auf räumliche,
sondern auf geistige Gegebenheiten bezogen - ein Beleg von Schiller:
Das Reich der Phantasie ist ihm eine fremde Zone, worinn er sich
nicht wohl zu orientieren weiß (Schiller, Briefe 1787, I 398)
von Freiherr von Knigge:
[Wer lange in der großen Welt gelebt hat] wird die Fertigkeit
erlangt haben, sich geschwind zu orientieren, schnell zu fassen,
welche Sprache anwendbar ist (Knigge, Über den Umgang mit Menschen
1789, II 40)
von Gottfried Keller:
Ich habe heute im Rittersaal decken lassen .. Wir haben so lange
nicht da gegessen und der Herr grüne Heinrich kann sich da am besten
orientieren, bei wem er eigentlich ist, wir haben uns, die wir ihn
nun schon mehr kennen, ihm eigentlich noch gar nicht vorgestellet
(Keller, Grüner Heinrich, 1854/55, IV, S. 232).
In dieser Verwendung hat orientieren eine Bedeutung, die für uns von
eminenter Wichtigkeit ist: Neue Zusammensetzungen wie leistungs-,
verkaufs-, markt-, bedarfs-, erfolgs-, konsum-, gebrauchsorientiert
- und allen bekannt: gebrauchsorientierte Gestaltung - solche
Zusammensetzungen sind ebenso Schlüsselwörter unserer Gegenwart wie
die Ableitung desorientiert (Flake, Zweite Jugend 1924, 48) und die
Journalistenfloskel von gutorientierter Seite, die mit dem ,Berliner
Tageblatt' vom 6. Juni 1931 belegt ist.
Festzuhalten bleibt: Vom Beginn seiner Einführung in die deutsche
Sprache in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. an hat das Verb
orientieren im Wesentlichen den Bedeutungsumfang, den es auch heute
noch hat. Was Kant noch nicht vermerkt und sich wohl erst im späten
19. Jh. entwickelt, ist eine eigene Bedeutung des Partizips
orientiert:
Denken Sie nur nicht, Herr Pastor, daß wir gar so mangelhaft
orientiert sind (Polenz, Grabenhäger, 1893, II 235) -
hier haben wir einen frühen Beleg aus dem Jahr 1893 für orientiert
im Sinn von ,unterrichtet, wissend'. Was ebenso im späten 18. Jh.
noch fehlt, ist eine Besonderheit des Sprachgebrauchs der DDR:
jemanden/etwas auf etwas orientieren im Sinn von ,auf etwas
hinlenken, hinweisen': der Redner orientierte auf die Verbesserung
I...,30,31,32,33,34,35,36,37,38,39 41,42,43,44,45,46,47,48,49,50,...55