das Mitleid entziehen zu können, und wer diese Illusion fördert,
leistet dem deutschen Volk vor dem Forum der Menschheit einen
schlechten Dienst." (022/1947; I 482)
Richter geben ihrem Entsetzen Ausdruck, ihre Affektkontrolle ist
außer Funktion, wenn sie etwa die "Einmaligkeit" und
"Ungeheuerlichkeit" (017/1947; I 314) des nationalsozialistischen
,Euthanasie'-Programms feststellen, eine Erschiessung kurz vor
Kriegsende als "Bestialität" (020/1947; I 417) erkennen, wenn sie
"stärkste Zweifel an der Möglichkeit einer so bestialischen
Handlungsweise zu überwinden" hatten (270/1951; VIII 266). Auch die
Profilierung der Opfer - vor allem der prominenten - ist Anlass zum
Ausdruck tiefer Abscheu: Der ehemalige leipziger Oberbürgermeister
Carl Goerdeler war "ein Mensch .., dessen vorzeitiger Tod für unser
Bemühen um eine vom Sittengesetz getragene Ordnung ein schmerzlicher
Verlust bleiben wird" (032/1947; I 713). Die noch 1945 umgebrachten
Canaris und Bonhoeffer waren "verantwortungsbewusste
Persönlichkeiten". Sie befanden sich in einem "ernste[n]
Gewissenswiderstreit .. vor die Wahl gestellt zwischen ..
Gehorsamspflicht und Unterworfensein unter die damals geltenden
strengen Gesetze und zum andern den edler Gesinnung entsprungenen
und höheren Zielen dienenden, den Mut zur Selbstaufopferung
erheischenden Bestrebungen, die Gewaltherrschaft Hitlers zu
beseitigen" (420/1952; XVIII 352).
Schlussstrich-Atmosphäre? Abwehr? Verweigerung? Die Tat der
Angeklagten Helene Schwärzel, die Karl Goerdeler noch im August 1944
ans Messer lieferte, ist motiviert "aus einem auf hysterischer
Grundlage beruhenden Geltungsbedürfnis und aus Rechthaberei",
begangen von einer "wenig ausgereifte[n] hysterische[n] Frau [mit]
unausgeglichene[m] Gefühlsleben .. geringe[r] Begabung, Mangel an
Zielstrebigkeit .. Hang zum Starrsinn .. Eitelkeit", kurz einer
"Persönlichkeit kleinen geistigen Formats" (032/1947; I 713). Die
"Kommandeuse" des KZ Buchenwald Ilse Koch beging ihre Straftaten,
weil sie "ihre persönliche Machtstellung .. zeigen wollte", sie fand
"an der Zufügung von Unrecht, Leid und Schmerzen persönlich eine
innere Befriedigung", sie ist "triebhaft", gemütskalt" und
"geltungssüchtig", "Hochmut" und "Egoismus" (262/1950; VIII 127)
zeichneten sie aus. Der Täter in einem Treblinka-Prozess, der sich
u.a. zu verantworten hat für die "in ihrer Rohheit kaum zu
überbietende Tötung der kleinen Kinder", war "einer der brutalsten
Angehörigen des Lagerpersonals" (270/1950; VIII 270).
Widersprüchliche Einstellungen zum Nationalsozialismus und seinem
Unrecht, zu den Tätern und ihren Taten bestimmen die Signatur der
ersten zehn Nachkriegsjahre. Zu begründen ist diese Aporie
grundsätzlich mit unterschiedlichen Einstellungen der einzelnen
Richter zu den Unrechtstaten der Nazizeit. Gleichzeitig sind aber
auch gesellschaftspolitische Abhängigkeiten zu konzidieren und
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