Aus: "Die Schuldfrage" von Karl Jaspers
(1946). Ein zentraler Text des deutschen
Nachkriegsdiskurses (2007)
Die Schuldfrage ist mehr noch als eine Frage seitens der andern an
uns eine Frage von uns an uns selbst. Wie wir ihr in unserem
Innersten antworten, das begründet unser gegenwärtiges Seins- und
Selbstbewußtsein. Sie ist eine Lebensfrage der deutschen Seele. Nur
über sie kann eine Umkehrung stattfinden, die uns zu der Erneuerung
aus dem Ursprung unseres Wesens bringt. Die Schulderklärungen
seitens der Sieger haben zwar die größten Folgen für unser Dasein,
sie haben politischen Charakter, aber sie helfen uns nicht im
Entscheidenden: der inneren Umkehrung. Hier haben wir es allein mit
uns selbst zu tun. Philosophie und Theologie sind berufen, die Tiefe
der Schuldfrage zu erhellen. (Jaspers 1946, 134)
Nicht nur Philosophen und Theologen kümmern sich in der frühen
Nachkriegszeit um eine Klärung dieser Frage. Auch Politiker und
Dichter und Zeitkritiker tun dies - es ist die neue Interpretations-
und Funktionselite, die z.T. direkt von den Alliierten mit dem
Wiederaufbau der politischen und gesellschaftlichen Struktur
beauftragt und um Hilfe bei der Umerziehung der Deutschen gebeten,
m.a.W. mit Verantwortung versehen ist. Von einer deutschen Schuld
sind sie überzeugt, und eine bequeme Erledigung der Schuldfrage
erlauben sie sich mit der Konstruktion der schuldigen Deutschen
nicht, im Gegenteil: Sie schaffen sich damit die Notwendigkeit zu
differenzieren und nachzuweisen, worin diese Schuld und
Verantwortung beim Einzelnen besteht und womit sich ein Reden in
dieser Kategorie überhaupt rechtfertigen lässt - Quantifizierung und
Qualifizierung von Schuld und Schuldigen lautet ihre selbst
gestellte Aufgabe. In diesem Sinn stellen sie die Frage nach der
Schuld als Frage nach der Schuld der Täter als den wirklich
Schuldigen, als Frage nach der eigenen Schuld, derjenigen also, die
es, als Angehörige der geistigen Elite, hätten besser wissen müssen
als eine Frage von uns an uns selbst (Jaspers), nach der Schuld der
Deutschen schließlich - als eine Lebensfrage der deutschen Seele
(Jaspers). Der Beitrag Karl Jaspers' zu dieser Klärung ist eine
philosophische Vorlesung.
Im Wintersemester 1945/46 hält Karl Jaspers nach mehrjähriger
erzwungener universitärer Abstinenz eine Vorlesung zu dem Thema
"Über die geistige Situation in Deutschland". Derjenige Abschnitt,
der von der Schuld der Deutschen handelt, ist mit "Die Schuldfrage"
überschrieben. Die ,Schuldfrage' ist bis heute einer der wichtigsten
Texte, die sich mit der deutschen Vergangenheit 1933 bis 1945
auseinandersetzen. Er war in den ersten Nachkriegsjahren der
wichtigste Beitrag zu den durchaus zahlreichen zeitgenössischen
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